der singende Knabe
Leberecht Gottlieb (78)
78. Kapitel, das uns erfahren lässt, wie sich Leberecht Gottlieb langsam aber sicher bei den "Kindern des Gebieters der Sterne und Wesen" einzuleben beginnt und wie er darüber erstaunt ist, dass Neues und Altes sich nur scheinbar nicht vertragen können ...
Auch in den nächsten Tagen wird der pensionierte Pfarrer Leberecht Gottlieb aus Sachsen nicht in die Heilige Stadt Jerusalem zu reisen vermögen, denn er muss weiterhin in der Obhut der kleinen Kirchensekte „Kinder des Gebieters über Sterne und Wesen” verbleiben. Draußen in der heißen Wüste irgendwo zwischen Kairo und dem gelobten Land beginnt seine Zeit der Rekonvaleszenz. Unser Held und Emeritus, der von einem Schlangenbiss in Mitleidenschaft gezogen wurde, wie wir gelesen und gehört haben, hat sie bitter nötig. Man soll nichts übertreiben - vor allem im vorgerückten Alter nicht.
Jawohl - „Kinder des Gebieters über Sterne und Wesen.” Genauso lautet der Name dieser unter der Sonne bisher fast gänzlich unbekannten Denomination, welche jedoch in den folgenden Kapiteln noch von sich Reden machen wird. Im Urtext spricht man den Namen der Sekte folgendermaßen aus: Jildim Schol Schalit Hakochabin W’hajischojot - oder auf Arabisch etwas einfacher: Abna hakim alnujum walkayinat. Merkt es euch - denn wir werden auf diese innerhalb der Familie aller Religionen hochinteressante Gruppierung noch öfter zurückkommen müssen. Der Einfachheit halber jedoch werden wir uns dann mit einer lesbaren Abkürzung zufrieden geben. Auch aus Gründen der Barmherzigkeit den treuen Lesern gegenüber nennen wir die kleine religiöse Sondergemeinschaft in Zukunft nur: Jildim Hakochabin - „Kinder der Sterne“, was nichts mit dem Romantitel des Science-Fiction-Autor H. G. Wells zu tun hat, der im 19. Jahrhundert als englischer Schriftsteller Pionier der Fantasy-Literatur gewesen ist und mancher von uns Bücherratten den Weg zu obersten Phantasie-Sphären eröffnete.
Als der Rauch sich nun verzog, den das Gift der Naja-Schlange im Hirn Leberechts angenebelt und ihn dadurch einer Flut grausamster Wachträume ausgesetzt hatte, kam der Mann langsam wieder zu Kräften und wurde von den beiden Schlangenweibern, die ihn rührend gepflegt hatten, in dem großen Versammlungszelt der Kirche (oder Sekte) langsam auf und ab geführt, damit er langsam wieder auf die Beine käme. Leberecht schaute sich in dem Zelte aufmerksam um - denn dort waren kunstvolle Bildnisse zu betrachten, die den Glauben der Jildim Hakochabin - „Kinder der Sterne“ offenbar beurkunden sollten. Diese Darstellungen zeigten zumeist menschenähnliche Wesen, die in sonderbaren Kapseln saßen, welche zwischen Sternen zu schweben schienen. Leberecht setzte sich vor diese Bilder, um sie genauer betrachten zu können. Daraufhin verließen ihn die schlangenkundigen Frauen und zogen sich zurück.
Dafür traten jetzt der schwarze Bärtige mit dem roten Turban und der Medizinmann ein und gesellten sich zu Leberecht. Es ergab sich von selbst, dass die Nargiles entzündet und Gläser mit heißem Tee gebracht wurden. Die beiden Bärtigen setzten sich in der Nähe Leberecht nieder und nun entstand jenes lange Gespräch über geistlich-geistige Dinge, welches wir hier deshalb wiedergeben können, weil die Konversation sich in deutscher Zunge vollzog. Das heißt, der Clanchef Ibn Jesus mit dem roten Turban übersetzte dem Medizinmann die Worte Leberechts - und diesem alles, was der Medizinmann von sich gab. Es sollte eines jener Glaubensgespräche werden, die an manchen Stellen auch ins Tagespolitische abzugleitendrohen - einfach deshalb, weil sich das nur sehr schwer verhindern lässt. Wie es in solchen Gesprächen meistens zugeht, versuchen die Gesprächspartner ihren Standpunkt apologetisch darzulegen, zu verteidigen und die jeweils andere Auffassung durch irgendwelche Argumentationen zu entkräften. So gelangte Leberecht also in eine relativ missliche Situation, denn er scheute sich, vor der hier waltenden Wüstenkultur die Überlegenheit seines sächsisch-preußischen Protestantismus in extenso auszubreiten. War er doch gerade von den einfachen Jildim Hakochabin als hilfloser Sachse aufgesammelt und gerettet worden.
Gerade als er den Wüstenleuten die Theorie der Unmöglichkeit ihrer leiblichen Abstammung von Jesus Christus erläutern wollte, wurde das Gespräch unterbrochen. Ein Motorengeräusch nämlich war hörbar geworden und so erhob man sich, um aus dem Zelt in die Wüste hinaus zu schauen. Leberecht erschrak. Da kam ja wohl nicht tatsächlich ein Jeep Marke Wrangler auf den Platz gerollt? Der sah aber ziemlich demoliert aus, zeigte Einschusslöcher an den Türen - und die Sitze waren mit - Blut! besudelt. Das sah nicht gut aus.
Am Steuer des Wrangler saß einer der Jildim Hakochabin. Leberecht erhaschte im Getümmel aus dem fremden Stimmengewirr einige fakten. Den Rest übersetzte Ibn Jesus. Dass also dieser Wagen in der Wüste herrenlos aufgefunden worden wäre. Man hätte das tief im Sand eingebrochene Fahrzeug vermittels der Kraft einiger Kamele aus dem von tückischen Erdhörnchen gegrabenen Tunnelsystem herausgezerrt und hierher verbracht. Denn Fahrzeuge könne man immer gut gebrauchen - auch wenn sie nicht so gut funktionieren wie etwa Dromedare. Leberecht entsetzte sich einigermaßen, als er die blutigen Sitze betrachten musste - und fragte sich, wo nun die vier jungen Menschen geblieben sein mochten? Die beiden schönen Theologiestudentinnen Mechthild-Erdmute und Irene? Der Archäologe und der IT-Freak?
Leberecht berichtete Ibn Jesus und dem Medizinmann von seiner flüchtigen Bekanntschaft mit den vier Reisenden, denen das Automobil gehört hatte. Dann sah er mit zu, wie alles Mögliche aus dem Fahrzeug genau betrachtet und hervorgezogen wurde. Auch sein Köfferchen war dabei. Mit Zahnbürste und Rasierzeug. Und dann hob man auch das schwere Satellitentelefon aus dem Fahrerhäuschen. Von den jungen Leuten - wie wir sie hier weiter nennen wollen - wollte der Chauffeur-Beduine der Jildim Hakochabin nichts bemerkt haben. Schwebten sie gar in Gefahr? Sie waren dem Heilgen Gral, der Lanze und der Bundeslade auf der Spur gewesen … Als Leberecht Ibn Jesus solches mitteilte, machte der eine sehr ernste Mine und übersetzte es dem Medizinmann, der darauf ein noch viel, viel ernstere Grimasse schnitt. Auch - hieß es - seien Spuren im Sand nicht gefunden worden. Wohl nur um ihn beruhigen sagte man Leberecht: „Die Insassen des Fahrzeugs sind womöglich nach Absetzen eines Funkspruches aus der Luft evakuiert worden.” Aber genau diese Art der Rettung spräche dafür, dass es sich wohl nicht um biedere Theologiestundentinnen gehandelt haben könne, sondern um ein hochgeheimes Team von @alphaOne-Spezialistinnen, die tatsächlich den Heiligen Gegenständen auf der Spur und incognito unterwegs gewesen, als sie erst Leberecht zufällig antrafen und dann sehr professionell im Sand stecken geblieben waren.
Leberecht erfuhr nun, dass die Kirche der Jildim Hakochabin keine Schriften verehrt, sondern nur einen einzigen wenn auch ururalten Bericht des Schöpfungsgeschehens, der aber nur bis zum vierten Tage reichte, sich über die Jahrtausende erzählten. Der Medizinmann wies Leberecht auf eine Tafel hin, die in dem Zelt geostet aufgestellt stand und diesen wichtigen Text mit vorsintflutlichen Hagiographen aufgezeichnet darstellen sollte. Leberecht trat an die Tafel und entdeckte den alten hebräischen Text, mit dem er sich während des Hebraikums hatte erfolgreich auseinandersetzen dürfen. Der Text war aber irgendwie anders und las sich in unser liebes Deutsch übertragen etwa so:
Im Kopfe schuf Gott die Himmel, die Erde.
Die Erde war wüst und war leer.
Das Dunkel bedeckte jedes und alles
und über den Fluten schwang Gottes Geist.
Der Gott sprach: »Licht mag entstehen!«
und Licht erstrahlte über und über.
Da sah der Gott das Licht, es war gut.
Und trennte sein Licht von der Dunkelheit ab.
Er nannte das Licht seinen Tag,
die Dunkelheit nannte er Nacht.
So wurde es Abend, so wurde es Morgen:
der erste Tag war entstanden.Und weiter sprach Gott:
»Im Wasser die Grenze,
es sei Unterscheidung inmitten der Fluten!«
Und so geschah es: Gott schuf ein Gewölbe,
das trennte das Untere vom Oberen ab.
Dann nannte er das Gewölbe den Himmel.
So wurde es wiederum Abend und Morgen.
Ein anderer Tag war entstanden.Und dann befahl er: »Nun sammle sich Wasser
hier an den Stellen, damit auch das Trockne
mein Auge betrachte.« Und so geschah es.
Gott nannte das Trockene Landschaft,
das Feuchte nannte er Meer.
Gott sah es und siehe: Auch dieses war gut.
Und weiter rief er: »Hervor mit dem Grün.
Pflanzen und Bäume von jeglicher Art.”
Und so geschah es am dritten der Tage.Hierauf sprach Gott: »Dem Himmel die Lichter,
die Tage und Nächte, Zeit in Äonen
wohl unterscheiden. Gott machte zwei Lichter,
dem Tage ein großes, dem Dunkel ein kleines.
Dazu auch das glänzende Heer seiner Sterne.
der schimmernden Sterne funkelndes Heer.
Du selber siehst ja, wie schön diese sind.
Ein beachtlicher Text und - eine beachtliche Leistung nach sechzig Jahren Dorfpfarramt noch so gut in der Beherrschung toter Sprachen reüssieren zu können. Aber die Sprachen sind ja nicht tot - nur die Leute, die sie nicht sprechen sterben - auch an diesem Mangel. Leberecht extemporierte die Übersetzung halblaut vor den beiden Bärtigen. Der Medizinmann bekam es übersetzt - und Ibn Jesus war begeistert und bat Leberecht darum, die Übertragung aufzuschreiben, denn die Sprache seiner geistigen Urururgroßmutter aus Sachsen wäre ihm heilig. F a s t heilig korrigierte er sich dann nach einigem Bedenken. Leberecht schrieb also mit einer alten Feder und grünlich schimmernder sonderbar riechender Tinte auf ein feines Lederquadrat und überreichte dann Ibn Jesus dieses Werk, der das Leder in der heißen Luft hin und her schwang, damit die Tinte trockne.
Dann beklagten sich die beiden Bärtigen über die ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte, in denen der christliche Mob auf Anstiften einiger minderbemittelter Bischöfe die alten Universitätsbibliotheken von Alexandria bis Konstantinopel abgefackelt und dadurch unschätzbare Bücherschätze unwiderruflich vernichtet hatten. Andernorts, wo dem Pöbel hatte Einhalt geboten werden können, waren die Bibliotheken nur aufgelöst und die Schriften verhökert worden. Diese Kulturzerstörung kam als Befehl von ganz oben, aus Konstantinopel und von kirchenleitenden Stellen. Soldaten schlichen durch die Städte und in wessen Haushalt ein Buch aufgefunden wurde, der erlebte den Abend nicht mehr unter den Lebenden. Mao Tsedong ließ die Besitzer von Brillen später genauso umbringen. Und vielleicht werden die Kommissare der noch existierenden Europäischen Union Besitzer von echten Papierbüchern irgendwann einmal internieren oder dummimpfen, fiel Leberecht in die Klage der beiden Bärtigen ein. Denn die Internetkrake mit der WIKIPEDIA als Speerspitze des kollektiven Halbgebildetenwahnsinns soll bis in das allerletzte Kinderhirn greifen und in diesem ihrem verderblichen Werke nicht von alten Lexika aus guten alten Zeiten seriöser Wissenschaft aufgehalten oder bei ihrem satanischen Zerstörungswerk behelligt werden können. Ja - es gab im Mittelalter diese Zeit, in der die Mönche in den Klöstern alte Bücher abgeschrieben haben, ohne zu verstehen, was sie da schrieben. Sie haben Zeichen gemalt. Und wussten nicht, was der Sinn dieser Zeichen einst gewesen - haben einfach abgeschrieben ohne zu verstehen. Man war sich einig.
So etwa ging es lange hin und her. Ein kulturpessimistisches Gespräch, während dessen Dauer man sich inhaltlich solche Bälle zuspielte, die üblicherweise unter kritischen Intellektuellen en vogue sind und mit Hilfe derer überprüft wird, mit wem und mit welcher politischen Meinung man es zu tun hat.
Ibn Jesus - so stellte sich heraus - hatte einmal Soziologie in Frankfurt am Main studiert, dann aber das Studium abgebrochen. Er war zurückgekehrt zu seinem heimatlichen Wüstenstamm. Um diesen vor dem Teufel der abendländisch-bolschewistischen Kulturzerstörung zu bewahren, wie er ausführte. Leberecht sagte dazu nichts. Die Kategorien, die er selber - um sich in der Welt denkerisch zurecht zu finden - benutzte, schienen andere zu sein als jene, welche hier in der Wüste Gültigkeit gewonnen hatten. So schwieg man eine Weile miteinander. Dann aber sollte es endlich um Gott gehen. Also - um den Gebieter der Sterne und Wesen.
Jedoch erklang nun die kleine helltönende Glocke, welche am Türpfosten angebracht war. Einer jener beiden Knaben, welche wacker die Tonschalen während des Gottesurteils mit den Schlangen gehalten hatten, trat alsbald in das Zeit ein, nahm das beschriebene Leder von der Tafel, verneigte sich zum Zeltausgang hin und rezitierte die von Leberecht aufgeschriebene Übersetzung des alten Textes, weil Ibn Jesus ihn herzlich darum gebeten hatte. Ibn Jesus begleitete den singenden Knaben, welcher etwa vierzehn Jahre alt sein mochte, sehr dezent auf einer Pferdekopfgeige - und der Medizinmann rührte die Tablas. >> Leberecht war von dieser Musik schwer beeindruckt. << "So also singen die Kinder der Wüste?" dachte er und das Herz setzte ihm einen Schlag aus. Seine Konfirmanden hatten am Schluss nur noch Schrott vom Handy gehört - selber aber nichts mehr singen wollen. Und dann gab es auch bald keine Konfirmanden mehr. Erst hören sie auf zu singen. Damit beginnt das Ende ...
---
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.