Predigt zum Weltflüchtlingstag
Achtet die Menschenrechte!
Der Theologe und Bürgerrechtler Ralf-Uwe Beck predigte beim Rundfunkgottesdienst anlässlich des Weltflüchtlingstages am 25. Juni in der Oberkirche in Arnstadt. Darin kritisiert er scharf die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen und den Kompromiss für eine Europäische Asylpolitik. Zudem zeigt er Lösungen für einen humanen Flüchtlingsschutz auf.
Hier der Wortlaut:
In dem Text des Propheten Jesaja, den wir gerade gehört haben, geht es ums Fasten. Die Menschen hat damals umgetrieben, wie sie sich verhalten sollen, was gottgefällig ist, was Heil bringt, was Unheil. Dazu sagt der Prophet: Was geht ihr denn in Sack und Asche. Wer den Kopf hängen lässt, schaut immer nur auf den eigenen Nabel. Jetzt mal Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist. Ja fastet, aber nicht, indem ihr nur darauf achtet, was ihr vorn reinschiebt und was hinten wieder rauskommt. Denkt ihr wirklich, ihr könntet so das Licht gewinnen, während andere in der Finsternis sind, ihr könnt gerecht leben, während ihr anderen Unrecht tut? Meint ihr das ist gottgefällig?
Auf mich wirkt dieses Prophetenwort kräftig, mahnend, laut – und dann wieder versöhnlich, indem er einlädt, dem zu vertrauen, was heilt. Und dabei holt er die in den Blick, die gar nicht im Blick sind, die nicht gesehen werden. Also nehmen wir uns einen Moment Zeit und schauen genauer hin.
110 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Es werden von Jahr zu Jahr mehr. Die meisten bleiben in der Region, flüchten ins Nachbarland und sitzen dann dort fest. Aber viele kommen auch nach Europa, auch nach Deutschland. Die Kommunen sind überfordert und heben die Hände. Und die Politik? Sie hebt die Schwellen. Die ukrainischen Flüchtlinge werden willkommen geheißen, die anderen eher nicht.
Jede Nacht werden an der polnisch-belarussischen und an der kroatisch-bosnischen Grenze Flüchtlinge verprügelt, ausgeraubt und zurückgetrieben, sobald sie EU-Gebiet betreten. Die griechische Küstenwache schleppt immer wieder Boote mit Flüchtlingen zurück aufs Meer und überlässt sie dort sich selbst. Es sind Menschenrechtsverletzungen. Es ist brutal und es ist illegal. Würde dies deutschen Familien an irgendeiner Grenze dieser Welt passieren, würde das Auswärtige Amt einen Krisenstab einrichten, die Ministerin würde Minister in anderen Ländern anrufen, der Kanzler würde sein Mitgefühl ausdrücken. Aber es sind ja keine deutschen, keine europäischen Familien. Und so wird es toleriert. Menschen sollen abgeschreckt werden, sich auf den Weg zu machen. Dafür braucht es Grenzzäune, Lager und – Bilder: von Flüchtlingen hinter Stacheldraht, von Booten, die auf dem Mittelmeer treiben, von Flüchtlingen, die es nicht schaffen bis an ein rettendes Ufer. Das zentrale Mittelmeer ist zum Friedhof geworden. In den vergangenen zehn Jahren sind dort mehr als 25.000 Menschen ertrunken, in der vorletzten Woche wieder Hunderte. Die Leichen werden auch an die Strände unserer Verantwortung gespült.
Europa will die Menschenrechtsverletzungen nicht beenden, Europa will daraus ein Programm machen, es zum Prinzip erklären. Gerade haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf eine gemeinsame Asylpolitik geeinigt. Was uns als notwendig und vernünftig verkauft wird, bedeutet mehr Grenzanlagen, mehr Stacheldraht, bedeutet den Bau von Lagern an den EU-Außengrenzen. Flüchtlinge, die oft Monate unterwegs waren, erschöpft sind, sollen dort inhaftiert und möglichst abgeschoben werden: aus den Augen, aus dem Sinn. Sie sollen im Schnellverfahren sortiert und aussortiert werden. Wie Abfall.
Nein, sagt Jesaja: Löst die Fesseln der zu Unrecht Gefangenen, bindet ihr drückendes Joch los! Lasst die Misshandelten frei und macht jeder Unterdrückung ein Ende! Lasst endlich die Gerechtigkeit vor euch herziehen.
Europa ist auf drei Hügeln gebaut, so hat es der erste Bundespräsident Theodor Heuss einmal gesagt: Auf dem Kapitol in Rom. Dieser Hügel steht für den Rechtsstaat. Auf der Akropolis in Athen. Dieser Hügel steht für die Demokratie. Und auf Golgatha, dem Hügel in Jerusalem, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. Dieser Hügel steht für die Menschenwürde. Deshalb nennen wir Europa auch das christliche Abendland.
Dieses Europa lässt die Gerechtigkeit hinter sich. Mit jedem Flüchtling, der im Mittelmeer ertrinkt, versinkt auch der Hügel der Menschenwürde im Meer, gibt Europa sein Werte auf. Aber nur wenn die Gerechtigkeit vor uns hergeht, folgt die Herrlichkeit des Herrn nach, verheißt der Prophet. Teilt euren Wohlstand, teilt das Brot. Das ist das Fasten, an dem ich Gefallen habe. – Und Jesus wird später sagen: Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind – das habt ihr für mich getan.
Und wenn sie noch so unbedeutend sind. Warum betont Jesus das, dieses „unbedeutend“? Jesaja macht eine ähnliche Ansage: Zeig auf niemanden mit dem Finger und unterlass üble Nachrede, sagt er.
Weil wir dazu neigen, schlecht über Menschen zu reden, weil wir sie dann nicht als Menschen behandeln müssen. Flüchtlinge werden behandelt wie Diebe, die an unseren Wohlstand wollen, die einbrechen in unsere Idylle. Sie werden abgestempelt als Wirtschaftsflüchtlinge. Als hätten sie aus Jux und Tollerei ihre Heimat verlassen, als seien Elend und Hunger nicht Grund genug. Sie werden beschimpft als Hungerleider und Habenichtse, als Asyltouristen, als seien die Lager in Libyen, in denen Frauen vergewaltigt und Männer als Sklaven verkauft werden, so etwas wie Urlaubsquartiere.
Mit den Diffamierungen stellen wir Flüchtlinge außerhalb der Kategorien, die wir für uns gelten lassen und in Anspruch nehmen: Menschenrechte und Menschenwürde. Und dann können wir mit ihnen umgehen, wie es beliebt, sie verprügeln, sie ertrinken lassen, sie in Lager sperren, sie sortieren und aussortieren. Im vergangenen Jahr waren Bilder zu sehen von Flüchtlingen, die im griechisch-türkischen Grenzraum festgesetzt wurden, splitternackt. Man hatte ihnen alle Kleidung abgenommen und damit auch den Rest ihrer Würde.
Die üble Nachrede, Flüchtlinge nicht als Menschen anzusehen, das ist der Mörtel, mit dem die Festung Europa gebaut wird, Grenzpfahl für Grenzpfahl.
Zieht deine Gerechtigkeit vor dir her, folgt die Herrlichkeit des Herrn nach. Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief bekommen, in dem von dieser Herrlichkeit die Rede ist. Von einer Frau in Thüringen – mit einem kleinen faltbaren Kranich. Der Kranich ist Hoffnungsvogel, Glücksbringer. Und dazu hat sie geschrieben: „Unter Menschen muss man Gott suchen. In den menschlichen Begebenheiten, in menschlichen Gedanken und Empfindungen offenbart sich der Geist des Himmels am hellsten.“ Sie hat nicht geschrieben: in Gedanken und Empfindungen der Menschen. Sondern in menschlichen Gedanken und Empfindungen.
Siehe, es sind Menschen. Flüchtlinge nicht in Schubladen zu stecken, die dann klemmen bis zum jüngsten Tag, sondern meine Gedanken und Empfindungen den Menschen zuzuneigen, darauf kommt es an. Dann wird es hell, dann strahlt ein Licht auf. Auch für mich. Das ist kein dahergesagtes Prophetenwort. Von diesem Licht und wie es in den eigenen Alltag scheint, davon können Menschen erzählen, die sich Fremden zuneigen, sich anfreunden. Und selbst wenn wir diese Erfahrung nicht selbst machen können: Denken wir menschlich über andere und verkrümmen wir uns nicht in unsere Vorurteile wie geknicktes Schilf, dann sind wir auf der Seite des Heils und nicht des Unheils. Wir gehen abends anders zu Bett, wenn wir bei den Nachrichten nicht im Hass vor uns hinbrabbeln: Äh, die schon wieder und was wollen die hier und die sollen doch dorthin zurückschwimmen, wo sie hergekommen sind. – Wir gehen anders zu Bett, wenn wir einen Gedanken übrig haben, ein Gebet vielleicht, für die, die gar kein Bett haben, in das sie sich legen könnten, dann bricht das Heil an. Auch in mir selbst.
In einer Talkshow habe ich den ungarischen Botschafter in Deutschland sagen hören: Es gäbe kein Recht auf ein besseres Leben. Doch. Es ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch, der seine Kinder hungern sieht, hat das Recht, dies der ganzen Welt zum Problem zu machen. Weil es ein Problem dieser Welt ist, verursacht wohl kaum von dem, der hungert.
Kein Mensch flieht aus Jux und Tollerei. Es ist immer eine Not, die dazu zwingt. So sind Flüchtlinge Boten des Unheils auf dieser Erde. Die Weltbank geht davon aus, dass es bis 2050 mehr als 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben wird. Dürren und Überschwemmungen, Hunger und Elend werden sie zur Flucht zwingen. Und steigt der Meeresspiegel wird die Hälfte der Menschheit betroffen sein. Reiche Länder werden Dämme bauen, arme Länder werden überschwemmt werden, Ackerland und Trinkwasservorräte werden versalzen.
Es war zur ersten UNO-Klimakonferenz in Berlin 1995. Angereist waren auch die Regierungschefs kleiner Inselstaaten im Pazifik. Gemeinsam haben sie eine Pressekonferenz gegeben. Der Tenor: Wenn ihr nichts unternehmt, werden wir irgendwann mit nassen Füßen in euren Wohnzimmern stehen.
Dieses „irgendwann“ ist angebrochen. Die ersten Inselstaaten suchen für ihre Bevölkerung bereits eine neue Heimat, weil ihr Land unwiederbringlich verloren geht. Mit ihrem Appell damals haben sie uns in den reichen Industrieländern die Verantwortung zugewiesen. Geht es um die Klimakrise, geht es um Kohlendioxidausstoß. Der liegt in den Inselstaaten bei einer halben Tonne pro Kopf im Jahr, bei uns – ungebrochen – bei etwa 9 Tonnen pro Kopf und Jahr. Sie können nun wirklich nichts für ihr Schicksal. Wir schon.
Auch für die Hungerkatastrophe auf Madagaskar, die Überschwemmung in Pakistan, der 1.800 Menschen zum Opfer gefallen sind, die Brände, die in vielen Regionen wüten, die Heuschreckenplagen in Ostafrika, die Dürren und Hitzesommer.
Das Elend ist keine biblische Plage. Die Ungerechtigkeiten schreien zum Himmel, aber sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern von Menschen gemacht. Und was Menschen anrichten, können sie auch heilen.
Flüchtlinge sind Boten des Unheils, für das wir mit verantwortlich sind. Sie weisen uns auf Ungerechtigkeiten hin. Für die Klimakrise gilt das allemal. Wir verschulden, was sie – im wahrsten Sinne des Wortes – ausbaden müssen.
Gehen wir den Weg der Flüchtlinge, die es bis zu uns schaffen, zurück, dorthin, wo sie aufgebrochen sind, dann könnte es sein, wir begegnen uns selbst!
(Musik: Kanon „Uns selbst“)
Und, was machen wir jetzt damit? Wie sollen wir denn die Gerechtigkeit vor uns hergehen lassen, der Gottes Herrlichkeit nachfolgt? Wie kriegen wir denn den Schalter umgelegt, was ist zu tun? Ha, da lässt uns der vorlaute Prophet allein. Oder doch nicht? Da steht: Brich den Hungrigen dein Brot, nimm die Armen auf, bekleide, den der nichts anzuziehen hat, gib Obdach, dem, der keines hat. Das sind konkrete Ansagen, die alle auf eines hinauslaufen: Teilen. Ansonsten bleibt das menschliche Empfinden und Denken vielleicht doch nur hohles Geschwätz. Dem Propheten geht es nicht um Esoterik, nicht ums Wohlfühlen. Es geht ums Eingemachte, den Wohlstand. Deshalb die klaren Ansagen. Aber lassen sich damit die Probleme lösen – die es ja gibt: die Krisen und Konflikte, diese verteufelt ungerechte Welt, Fluchtströme und die Überforderung der Kommunen?
Neiiin, mit diesen Sprüchen lässt sich nicht Politik machen.
Sagt die Politik. Und damit liegt sie falsch.
Nimmt man diesen Faden des Teilens auf, lässt sich daraus ein roter Faden machen, der zu Lösungen führt.
Es gibt Beispiele. Seit dem Syrischen Bürgerkrieg, der vor zwölf Jahren begann, ist die jordanische Bevölkerung durch syrische Flüchtlinge um zehn Prozent gewachsen. Stellen wir uns das einmal für Deutschland vor: Es wären acht Millionen Syrerinnen und Syrer gekommen. Jordanien stemmt das. Es ist kein reiches Land. Wir waren mehrmals dort, Alexander Blume und sein Sohn Max, die Sie hier heute am Klavier und am Schlagzeug hören, Sina Rien am Bass und ich auch. Die Kollekte, die wir am Ausgang sammeln, ist bestimmt für eine christliche Schule in Jordanien, in der auch blinde und sehbehinderte Kinder unterrichtet werden, natürlich auch muslimische Kinder. Wer am Radio zuhört, kann auch etwas geben. Das geht online auf der Internetseite der Landeskirche: ekmd.de.
Jordanien. Dort ist von Ausländerfeindlichkeit weniger zu hören als bei uns. Der Staat hat nämlich festgelegt, dass genauso viel Hilfe, wie internationale Organisationen an Flüchtlinge geben, an die einheimische Bevölkerung verteilt werden muss. Wird Flüchtlingen geholfen, wird allen geholfen. Das ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Teilen.
Und jetzt zurück nach Europa. Ein Europäischer Fonds müsste her. Und Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen, bekommen die Kosten daraus finanziert. Genau so viel Geld bekommen sie noch für sich, für die Menschen, die da schon immer zu Hause sind. Dann heißt es: Wir konnten endlich die Schule und den Kindergarten renovieren, weil wir auch Flüchtlingen helfen. – Dann heißt es wie bei Jesaja: Du wirst Stätten wieder aufbauen, die seit Langem in Trümmern lagen.
Wir könnten auch von allen Investitionen, die wir in den Klimaschutz stecken, einen Anteil immer auch an Länder geben, die jetzt schon unter den Folgen der Erderwärmung leiden, damit auch sie Dämme bauen können und Solaranlagen. Das wäre nur gerecht. Damit würden wir die Grundmauern aus vergangenen Zeiten wieder herstellen, sagt Jesaja. – Auch die Grundmauern Europas, seine Werte, würden so gefestigt.
Leoluca Orlando, der bis heute vor einem Jahr 25 Jahre lang Bürgermeister von Palermo auf Sizilien war, soll bei dieser Predigt das letzte Wort haben; er hat gesagt: „Wenn man fragt, wie viele Migranten gibt es in Palermo? Sage ich nicht: 80.000, 90.000. Ich sage: keine. Wer in Palermo wohnt, ist Palermitaner. Ich mache keinen Unterschied zwischen dem, der in Palermo geboren ist und dem, der in Palermo wohnt. Und ich denke, das gehört zu Frieden und dem Respekt der Menschenrechte.“
Können wir daran arbeiten, dies für die Stadt, für den Ort zu sagen, in dem wir wohnen? Wir können – in Gottes Namen und im Namen Jesu Christi, beflügelt vom Heiligen Zorn und vom Heiligen Geist, der mehr ist, als wir uns an Ausreden zusammenstottern. Ja, wir können.
Amen
Autor:Online-Redaktion |
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