Etikettenschwindel
Das Kreuz mit dem Kreuz
Was ist der Unterschied zwischen einem Gipfelkreuz und dem Kreuz, das ab 1. Juni im Eingang jeder bayerischen Behörde hängen soll?
Von Tilmann Kleinjung
Das Gipfelkreuz ist Ausdruck von Volksfrömmigkeit, von Tradition und einem Gefühl, dass es doch etwas Größeres und Höheres geben muss als den Menschen. So ähnlich hatte auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder seinen Erlass zum Kreuz-Zwang in Behörden begründet. Den Unterschied macht das Wort »Zwang«. Dass ein Kreuz verordnet wird und nicht Ausdruck lebendiger Frömmigkeit und innerer Überzeugung ist zeigt, wie weit die Säkularisierung auch in Bayern fortgeschritten ist.
In großen bayerischen Städten wie München und Nürnberg werden Christen zur Minderheit. Das mag man bedauern, aber umkehren lässt sich diese Tendenz nicht per Dekret. Die neue religiöse Wirklichkeit ist ja mit schwarz und weiß, gläubig und nicht gläubig ohnehin nicht zu beschreiben. Es gibt Christen, die an den gekreuzigten und auferstandenen Heiland glauben und danach leben. Es gibt Christen, die zweifeln und Christen, denen die überkommenen Symbole und Rituale nur noch wenig bedeuten.
In Deutschland leben überzeugte Atheisten, Muslime aller Schattierungen, Buddhisten und Menschen, die auf allen möglichen Wegen nach dem Sinn des Lebens suchen. Und Vielen ist Religion schlicht egal. Diese religiöse Vielfalt erfordert religiöses Fingerspitzengefühl und auch ein Mindestmaß an theologischer Kompetenz. Sie lässt sich nicht mit einem einfachen Erlass in einen scheinbar paradiesischen Urzustand zurückverwandeln.
Ein Kreuz in der Eingangshalle des Finanzamts wird niemandem gerecht. Für diejenigen, die nicht an Jesus Christus glauben, symbolisiert das Kruzifix, dass der Staat seine religiöse Neutralität aufgegeben hat. Und die, die glauben, empfinden die staatliche Aneignung des Symbols als Zwangsenteignung. Am Kreuz hat sich Gott mit uns Menschen versöhnt. Das muss Folgen haben für unser Leben, unser Reden und Handeln – auch in der Politik. Wer das Kreuz auf Kultur und Tradition reduziert, betreibt Etikettenschwindel.
Der Autor ist Redakteur beim Bayerischen Rundfunk.
Autor:Online-Redaktion |
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