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Zwischenruf
Das neue Fremdwort: Friedenspolitik

Christian Wolff | Foto: epd-bild/Matthias Knoch
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Man reibt sich nicht erst seit dem 11. Februar 2022, verwundert die Augen. Präsident Joe Biden ruft alle Amerikaner, die in der Ukraine leben, dazu auf, das Land unverzüglich zu verlassen.  Außenministerin Annalena Baerbock zieht nach: auch deutsche Staatsbürger sollen möglichst umgehend nach Deutschland zurückkehren. Begründung: Angeblich stehe eine Invasion der vor der Ukraine aufgezogenen russischen Truppen unmittelbar bevor. Man verfüge über entsprechende Geheimdienstinformationen. Das Kriegsszenario soll Gestalt annehmen.

Von Christian Wolff

Nun mache ich mir über Wladimir Putin keine Illusionen. Er ist ein kaltblütiger Autokrat, der notfalls über Leichen geht. Ich sehe auch in dem Truppenaufmarsch der Russen in Belarus und vor der ukrainischen Grenze eine aggressive Provokation, die sich politisch kaum rechtfertigen lässt. Bei jedem einen Krieg einkalkulierenden militärischen Akt verbietet sich jede Form von politischer Rechtfertigung. Dennoch erinnert alles, was in den letzten Tagen verlautbart wurde, fatal an das Jahr 2003. Damals ergaunerte sich die Bush-Administration im Verein mit der Blair-Regierung in Großbritannien durch ein gezieltes Lügengebäude die Zustimmung des Weltsicherheitsrates zum Krieg gegen den Irak. Jetzt klingt alles so, als wolle man Putin geradezu herausfordern, endlich das zu vollziehen, was er androht: eine Invasion in die Ukraine.

Dabei ist nicht zu erkennen, welchen „Vorteil“ der sog. Westen aus einem solchen Gewaltakt ziehen könnte. Auch ist völlig unklar, wie „hoch“ denn der viel beschworene „Preis“ sein soll, den Russland für eine Invasion zu „bezahlen“ hat. Allein das wirft ein düsteres Licht auf die derzeitige Politik der NATO und der Europäischen Union. Denn nirgendwo ist eine Strategie zu erkennen – eine Strategie, die dem Frieden und damit auch der Ukraine dient. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass es derzeit keine erkennbare europäische Friedenspolitik gibt. Was will die EU in Mittel-/Osteuropa erreichen? Wie soll das Verhältnis zu Russland aussehen? Welche Vision in Bezug auf eine europäische Friedensordnung verfolgt der sog. Westen? Die Folgen dieses Defizit sind drastisch: In den hektischen diplomatischen Aktivitäten ist nicht zu erkennen, worüber man denn mit Russland reden, verhandeln will? Dem entspricht, dass es seit Wochen in den Medien und innenpolitischen Auseinandersetzung nur um zwei Fragen geht: Liefert Deutschland Waffen an die Ukraine? Wird Deutschland das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 beenden, bevor es überhaupt in Gang gesetzt wurde? Beide Fragen werden gebetsmühlenartig wiederholt, auch vom Botschafter der Ukraine, und das im vollen Wissen darum, dass beides – Waffenlieferungen und ein Ende von Nord Stream 2 – nichts zu einer friedlichen Entwicklung in der Ukraine beitragen kann.

Eine andere Frage wäre viel wichtiger zu erörtern: Was ist Sinn und Zweck einer Friedensordnung in einer Region, in der sehr unterschiedliche politische Systeme aufeinanderprallen? Weder kann es darum gehen, dass die anderen so werden wie wir selber, noch bedeutet Friedensordnung, sich mit einem politischen System gemein machen, das man für falsch und den Menschenrechten zuwiderlaufend hält. Das war auch die Ausgangslage der Ostpolitik vor über 50 Jahren. Das Wichtige ist: den Frieden erhalten, die Unterschiedlichkeit von politischen Systemen und Lebensweisen respektieren und die jeweiligen Interessen des anderen anerkennen und abwägen. Das ist schwer genug. Aber nur mit einem solchen Ansatz lässt sich eine gefährliche, kriegstreibende Situation vermeiden, die jetzt an der Westgrenze Russlands zu Zentraleuropa entstanden ist. Eines ist offensichtlich: In der vergangenen 30 Jahren wurde in Sachen Friedenspolitik viel versäumt – vor allem Russland einzubinden in eine europäische Friedensordnung und deren Sicherheitsinteressen zumindest zu bedenken. Solange aber eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens von der NATO und der Europäischen Union als Option aufrechterhalten wird, wird es sehr schwer, mit Russland in Verhandlungen auf Augenhöhe einzutreten.

Auf diesem Hintergrund ist es ein Segen, dass sich die neue Bundesregierung und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in den aufgeregten Debatten um die Ukraine bis jetzt absolut zurückhalten und jede Form der Kriegsrhetorik vermeiden. Es ist auch nur zu begrüßen, dass die Bundsregierung Waffenlieferungen an die Ukraine strikt ablehnt und Nordstream 2 nicht als Waffe in der Diplomatie eingesetzt wird. Wenn nicht alles täuscht, werden all diejenigen (insbesondere in den Medien), die geradezu infantil nur auf Waffenlieferungen setzen, Scholz ein Nein zu Nord Stream 2 abringen wollen und der Bundesregierung die Bündnistreue absprechen, bald sehr alt aussehen werden. Denn es ist jetzt die Stunde, entgegen allem Kriegsgeheul wieder das in den Mittelpunkt zu stellen, wozu jedenfalls in Deutschland Politiker*innen gewählt werden: dem Frieden in einem geeinten Europa zu dienen (Päambel des Grundgesetzes). Eigentlich ist schon genug Unheil in den vergangenen Jahrzehnten durch die entstanden, die statt das mühsame Geschäft einer Friedenspolitik zu betreiben, auf kriegerische Einsätze ohne strategisches Ziel gesetzt haben. Darum kann man die Bundesregierung nur dazu ermutigen, die Eckpunkte einer europäischen Friedenspolitik offen zu debattieren und vor allem politisch wirksam werden zu lassen.

Der Autor ist Pfarrer i. R. und Berater für Kirche, Politik und Kultur in Leipzig.

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Online-Redaktion

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