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Trauer um Theologen
Friedrich Schorlemmer verstorben

Friedrich Schorlemmer in seiner Wohnung in Lutherstadt Wittenberg bei seinem letzten Interview, das er 2022 der Kirchenzeitung gegeben hatte.
Am Sonnabend, 19. Oktober, um 12 Uhr, soll es im Gedenken an den Theologen und Ehrenbürger der Stadt einen Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche geben. | Foto: epd-bild/Paul-Philipp Braun
  • Friedrich Schorlemmer in seiner Wohnung in Lutherstadt Wittenberg bei seinem letzten Interview, das er 2022 der Kirchenzeitung gegeben hatte.
    Am Sonnabend, 19. Oktober, um 12 Uhr, soll es im Gedenken an den Theologen und Ehrenbürger der Stadt einen Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche geben.
  • Foto: epd-bild/Paul-Philipp Braun
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Seine Stimme fehlt: Der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer ist am Montag, 9. September, in Berlin verstorben. Schorlemmer hatte sich vor drei Jahren wegen einer fortschreitenden Demenzerkrankung aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebte zuletzt in der Nähe seiner Kinder in einem Berliner Pflegeheim.

Von Bettina Röder

Seine Stimme fehlt. Seine Klarsicht. Seine Ausstrahlung als Theologe, hellsichtig und mit Herz. Mit seiner unverwechselbaren Stimme, die aus dem Osten kam, hat er Menschen in Ost und West gleichsam bewegt. Seine brillante und zugleich verblüffend einfache Rhetorik war seine besondere Gabe. Die allerdings nie um sich selbst kreiste, sondern sich immer auf die konkrete Situation der Menschen bezog und so vielen Kompass und Orientierung für eine gerechtere, zukunftsfähige Welt war. Mit Friedrich Schorlemmer ist einer der großen Theologen unserer Zeit von dieser Welt gegangen. Am späten Abend des 9. September ist er im Alter von 80 Jahren in Berlin eingeschlafen. Er, der kluge Prediger, Musik- und Lyrikkenner, Autor von mehr als 20 Büchern, litt unter Demenz mit Parkinson. Eine brutale Krankheit, die Körper und Geist gleichermaßen angreift.

Den Frieden riskieren

„Kirche für andere“ im Sinn von Dietrich Bonhoeffer war sein Lebenskompass. Dabei hat er Evangelium und Politik nicht nur zusammengedacht, sondern immer auch in diesem Sinn gehandelt. So wurde er zur Symbolfigur der Friedlichen Revolution 1989, zu der er selbst entscheidend beigetragen hat. Doch auch in den Jahren davor und danach war der streitbare Publizist Impulsgeber für das Nachdenken und Suchen nach tragfähigen Werten für die Zukunft der Menschheit.

Aufgewachsen mit fünf Geschwistern ist seine Kindheit geprägt durch die landschaftliche Weite und das offene Dorfpfarrhaus in Herzberg, später zieht die Familie nach Werben. Ein Hof mit Landwirtschaft gehörte dazu, die Sorge ums tägliche Geld ebenso. Vom „wunderbar geschenkten Leben“ erzählt er in seiner Autobiografie: Wie er als Kind beim Taubenfangen für das Mittagessen der Familie im Kirchturm von einem morschen Balken 20 Meter in die Tiefe stürzte und auf einem Holzboden nur einen Meter entfernt von alten Metallgewichten der Turmuhr.

Marathonläufer des Friedens

Seine Eltern heirateten bei einem Fronturlaub des Vaters im August 1943, er wurde im Mai 1944 geboren. Sein Vater, so schreibt er, gehört zu den Soldaten „die aus dem Gemetzel zurückgekehrt waren“. Ihm sei das zur Verpflichtung geworden, niemals unbedingten Gehorsam zu schwören. Sein Lebensweg eines Unangepassten erzählt davon.

Doch zunächst wird die Hoffnung, in West-Berlin an der Freien Universität studieren zu können, durch den Mauerbau 1961 zunichte gemacht. Er kann als Pfarrerssohn das Abitur nur auf Umwegen an der Volkshochschule ablegen. In Halle studiert er Evangelische Theologie und geht anschließend als Jugend- und Studentenpfarrer nach Merseburg.

1978 wird er Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg, wo er auch Prediger an Martin Luthers Schlosskirche wird. Hier prägte er das Bild von Wittenberg, die Stadt, die er liebte, hier lebte er mit seiner Frau Heide und den beiden Kindern Martin und Uta. 1992 wechselte er als Studienleiter an die Evangelische Akademie in der Lutherstadt. „Menschen, die groß waren, ohne einen klein zu machen“, so hat er einmal gesagt, haben ihn geprägt.

Dabei zogen sich die Themen Versöhnung und Frieden wie ein roter Faden durch sein Leben. Von der Verweigerung des Wehrdienstes 1962 bis zu seinen markanten Ansprachen bei Großdemos wie am 4. November 1989, fünf Tage vor Mauerfall vor einer Million Menschen auf dem Alexanderplatz. Oder bei der Protestkundgebung vor der Berliner Siegessäule im Februar 2003 gegen den Irakkrieg, zu der wieder Millionen gekommen waren.

Frieden, davon war er überzeugt, ist viel mehr als das Schweigen der Waffen. Er setzte vielmehr auf die biblische Vision von einer Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen um- geschmiedet werden und kein Volk mehr lernt, Kriege zu führen. Besondere Anschauung hat er diesem Bild beim Kirchentag 1983 mit einer Schmiede-Aktion auf Lutherhof in Wittenberg verschafft. Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ war vom Staat verboten worden, die jungen Leute machten trotz Repressalien weiter.

Und der damals 39-jährige Dozent am Predigerseminar in Wittenberg erklärte im Feuerschein unter dem Jubel der jungen Menschen „Wenn man das Zeichen nicht mehr zeigen kann, wollen wir zeigen, wie man s macht.“ Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der damals dabei war, erinnert 1993 in seiner Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Friedrich Schorlemmer in der Frankfurter Paulskirche: „Diese Aktion war eine Aussaat ohne Kenntnis, wann und wie es zur Ernte kommen werde, aber in der Zuversicht darauf.“

Streiter für eine friedlichere Welt

Das Ur-Vertrauen, das hinter dieser Zuversicht steckt, war für den Theologen Friedrich Schorlemmer eine „religiöse Grundsubstanz“, ein Kompass für sein Leben und Wirken. Glauben, davon war er überzeugt, meint nicht das Für Wahr Halten eines bestimmten Kanons von Sätzen und Dogmen, sondern bedeutet, ein Grundvertrauen, eine existenzielle Gewissheit zu haben: „Der Mensch muss sich nicht vor Gott rechtfertigen – er ist gerecht gesprochen.“ Er wird geliebt und soll nun auch lieben. Er wird versöhnt und soll nun das Versöhnungswerk tun.

Genau aus diesem Grund auch hat ihn die Friedliche Revolution von 1989 nicht losgelassen. Unermüdlich hat er dafür gestritten, dass sie nicht aus dem Gedächtnis der Menschen in Deutschland gestrichen wird. Und mehr noch. Er setzte sich für einen Nationalfeiertag am 9. Oktober, der alles entscheidenden Montagsdemonstration, in Leipzig ein. Er war überzeugt: Die Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 mit ihrer friedensethischen Kraft der Kirchen als ein in der deutschen Geschichte einmaliges Ereignis ist wichtig, weil sie das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung aller Deutschen stärkt: die Erinnerung an Bürgermut und Zivilcourage, an die gewaltlose Konfliktaustragung.

Seinen späteren wiederkehrenden Appellen an die eigene Kirche, sich einzumischen, wo Friedlosigkeit, Ungerechtigkeit oder Not und Verzweiflung herrschen, wird kaum einer besser gerecht als er selbst. Ob Börsenfieber oder Zuwanderungsgesetz, Nahost oder Afghanistan oder der Elbeausbau – die Palette seiner Themen hätte nicht größer sein können. Die Kluft zwischen Ost und West, jahrelang geleugnet und in diesen Tagen so präsent, gehörte ebenso dazu. Wie auch seine erbarmungslose Kritik am kapitalistischen System. „Ich halte diesen Sieg des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das alles und jedes durchdringt und dies zu einem Zeitpunkt, da es eine sozialistische Alternative nicht mehr gibt – für verheerend“, war er überzeugt.

Dabei hat er Einladungen, in die große Politik einzusteigen, stets eine Absage erteilt. Gleichwohl er überzeugter Sozialdemokrat und ein Anhänger Willy Brandts war. Dessen Entspannungspolitik – ein wichtiger Faktor für den Mauerfall und das Ende der Teilung Europas – hat er von Anfang an mitgetragen. Engagiert arbeitete er im Willy-Brandt-Kreis, der 1997 u. a. für ein gerechtes Zusammenleben auch zwischen Ost und West gegründet wurde. Einer seiner besten Freunde war Egon Bahr. Als dieser den Vorsitz abgab, übernahm ihn gut zwei Jahrzehnte Friedrich Schorlemmer.

Friedenstein für "Schwerter zu Pflugscharen"

Das Motto Willy Brandts, den „Mut zum Dafür“, war auch sein Lebensmotto. Fast prophetisch klingt da, was er zu seinem 75. Geburtstag vor fünf Jahren an die Freunde schrieb. Er dankte ihnen, dass sie ihm trotz aller Weltsorgen „gerade jetzt, da alte Gespenster auf die politische Bühne zurückkehren“ geholfen haben, gelassen und engagiert zu leben. So hat er uns ein weiteres, kostbares Vermächtnis hinterlassen: Nur im Miteinander sind wir nicht verloren.

Kirche und Politik würdigen Schorlemmer
Autor:

Online-Redaktion

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