Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen
Gründung vor 100 Jahren
Die Thüringer evangelische Kirche ist Geschichte. Als eigenständige Organisation existierte sie von 1920 bis 2008. Und: Die Thüringer evangelische Kirche ist Zeitgeschichte.
Von Sebastian Kranich
Diese Kirche war jung. Geboren als Kind der Weimarer Republik, erlebte sie Nationalsozialismus, SED-Diktatur und 18 Jahre neue deutsche Einheit. Wäre es jetzt, anlässlich ihres 100. Geburtstages, noch einmal Zeit für einen Nachruf? Wie müsste dieser ausfallen?
In einer Kirche, die ein gesegnetes Menschenalter erreichte, kommt vieles zusammen. Familiäres, Persönliches und Politisches sind mit Wandlungen der Frömmigkeit und Theologie eng verwoben. Die 1920er-Jahre rücken bereits weiter weg. Sie erscheinen als pluralistisch-bunte, parlamentarisch-synodale Zeit. Was es da nicht alles gab: konservative Lutheraner, liberale Protestanten, religiöse Sozialisten, deutsche Christen. Alles unter dem Dach einer demokratisch wie national gedachten „Volkskirche“, der Abkunft nach lutherisch, dem Kurs nach „Heimat evangelischer Freiheit und Duldsamkeit“. Darüber lässt sich gut reden.
Deutlich weniger Abstand haben wir zur NS-Zeit – nicht nur zeitlich. Die Debatten um „Naziglocken“, wie die aus Tambach-Dietharz, oder das sogenannte Entjudungsinstitut in Eisenach zeigen es: Weder Glocken noch Institut sind rein Thüringer Probleme. Doch war die Thüringer Kirche „eine, wenn nicht die maßgebliche Hochburg deutschchristlicher, antisemitischer Theologie“, so Veronika Albrecht-Birkner, Professorin für Kirchengeschichte. Namen wie Walter Grundmann oder Erhard Mauersberger stehen für Enttäuschungen, die auch persönlich verarbeitet werden wollen.
Dagegen ist etwa an Werner Sylten, Titus Reuter oder an den früh verstorbenen Günter Herden zu erinnern. Letzterer attestierte dem Landeskirchenrat 1936 brieflich „nationalkirchliche Propaganda“, Gemeindespaltung sowie finanzielle Untreue und kündigte ihm konsequent „die Gefolgschaft“ auf.
Die Entnazifizierung fiel milde aus. Nicht wenige belastete Akteure kooperierten später mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Thomas A. Seidel formuliert vorsichtig: Die „besonders akzentuierte Kompromittiertheit der Kirche im Dritten Reich“ sei mitverantwortlich gewesen „für ihre besondere Kompromissbereitschaft unter der SED-Diktatur.“
Eine Reizfigur für viele bleibt Moritz Mitzenheim. An ihm werden oft verdeckt eigene Themen verhandelt. Denn: Wie passt das zusammen? Hier der volkskirchlich lutherisch-treue Kämpfer für seine Kirche, für verfolgte Kinder und Jugendliche – dort der „rote Moritz“, manipuliert vom IM OKR Gerhard Lotz? Offenbar ist das nicht bloß eine politische bzw. dogmatisch-ethische Frage. Und es ist auch nicht nur die eines besonderen »Thüringer Weges«, auf dem die staatlich inszenierten Tref-fen mit Walter Ulbricht in den 1960er-Jahren die freundliche Schauseite einer repressiven Kirchenpolitik abgaben. Vielmehr schwingt in der Sicht auf Mitzenheim die Handlungsalternative mit: Selbstbehauptung oder Preisgabe des politischen Raums – bis hin zu glatter Kooperation unter Formeln wie „humanistische politische Diakonie“ oder dem Mantra „Suchet der Stadt Bestes“.
Zugleich ist klar: Im Leben gibt es viele Grautöne. Nur weniges ist komplett schwarz oder weiß. Die große Forschungsarbeit zu Mitzenheim steht noch aus. Überhaupt fehlen für die 1960er- bis 1980er-Jahre größere Untersuchungen zur Thüringer Landeskirche. Doch wie wird man der Geschichte einer Kirche gerecht, die auch die Geschichte von Kirchgemeinden, von Diakonie, von Kirchenmusik und -zeitung, von Gruppen unter ihrem Dach und Kirchensanierungen nach 1990 ist? Eine Geschichte nicht nur von großen Männern und Vaterfiguren – bis hin zu den „Vätern der offenen Arbeit“, sondern auch von, z. B. bei der Ordination, benachteiligten Frauen? Eine Geschichte, die geschehen ist, aber nicht zwangsläufig immer so geschehen musste, die 88 Jahre währte, aber eine Vor- und eine Nachgeschichte hat?
Was soll man einer Kirche nachrufen, die weiterlebt – vereinigt mit der Kirchenprovinz Sachsen? Vielleicht dies: Glaube und Heimat sind in Thüringen nie deckungsgleich gewesen. Und: Die Wege stehen offen.
Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.
Autor:Online-Redaktion |
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