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Gute Politik ist barmherzig

Foto: epd-bild/Joern Neumann

Jahreslosung: Der Bibelvers "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" begleitet uns durch das neue Jahr. Eine sanftmütige Aufforderung. Aber wie viel Barmherzigkeit verträgt die Realpolitik?

Von Uwe Heimowski

Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Bundespräsident Joachim Gauck sprach diesen Satz. Im September 2015. Auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingswelle“, die alleine in Deutschland fast eine Million Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem südlichen Afrika „angespült“ hatte. Ganz zu schweigen von den Abermillionen, die auf der Balkanroute, in der Sahara, an der Küste Libyens oder auf den griechischen Inseln feststeckten und weiterdrängten. Dem weiten Herz Europas drohte der Infarkt.
In Gaucks Worten spiegelt sich das Dilemma einer großen Debatte wider, die seit Jahrhunderten die Philosophen und Theologen, die Denker des Abendlands, umtreibt: Kann, darf oder muss Barmherzigkeit ein Leitmotiv für das Handeln eines Staates sein? Politik hat für Recht und Ordnung, für Sicherheit zu sorgen. Aber für Barmherzigkeit?
Barmherzigkeit. Was ist das eigentlich? Ein barmherziger Mensch ist einer, der einen anderen nicht liegen lässt, wenn der „unter die Räuber“ gefallen ist (Lukas 10). Ein barmherziger Mensch lässt sich berühren vom Schicksal des anderen. Mitgefühl und Empathie sind Wesenszüge der Barmherzigkeit. Nicht als schnelle, gefühlige Regungen, die wie Fernsehbilder an uns vorbeiflackern. Barmherzigkeit geht tief – und sie setzt in Bewegung. Sie hilft auf, fasst an, sucht Lösungen. So wie Gott, der sich des Armen erbarmt und den Witwen und Waisen Recht schafft. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gehen Hand in Hand.
Zu allen Zeiten haben Menschen dieses Recht gebeugt. Kain erschlug Abel. David nahm Bathseba mit Gewalt. Herodes erschlug einen Jahrgang männlicher Neugeborener. Machterhalt mit aller Gewalt war und ist das Motto aller Despoten aller Zeiten. Eskaliert ist diese Geschichte der Erbarmungslosen in Deutschland. Vorbereitet von einer Ideologie des Stärkeren, einer rassischen Hackordnung, die dem Arier das Recht, ja die Pflicht zusprach, alles „Minderwärtige“ auszumerzen. Barmherzigkeit galt als Schwäche, als Verrat am "Volkskörper". Sechs Millionen Juden, jeder vierte ein Kind, wurden systematisch ermordet. Auch andere Ethnien wurden brutal verfolgt. Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden als „lebensunwertes Leben“ abgestempelt, hunderttausende im Zuge der Eu-thanasie-Gesetze (griechisch: „Schöner Tod“, was für ein Hohn) umgebracht.
Die Geschichte lehrt uns: Realpolitik kommt ohne Barmherzigkeit nicht aus. Sonst wird sie kalt, menschenverachtend und anfällig für Ideologien. Das Grundgesetz der Bundesrepublik stellt darum den Schutz der Menschenwürde an den Anfang. Der Staat muss dem Menschen dienen, kein Einzelner darf die Gemeinschaft ausbeuten, kein Kollektiv das Individuum unterdrücken. Der soziale Rechtsstaat hat die Aufgabe, die Schwachen zu schützen und sie am gesellschaftlichen Leben bestmöglich zu beteiligen, darüber hinaus hat er für größtmögliche Gerechtigkeit zu sorgen.
Was heißt das konkret? Etwa in Bezug auf Flüchtlinge? Was geht es uns an, ob auf Lesbos das Lager Moria brennt?
Das weite Herz sollte zunächst einmal überhaupt ein Herz, und damit bereit sein, sich berühren zu lassen. Die Welt im 21. Jahrhundert ist eine Schicksalsgemeinschaft. Unsere Waren kommen aus aller Welt, unseren Wohlstand erarbeiten in Schuldknechtschaft geborene Kinder an Webstühlen in Bangladesch, verschleppte Uiguren auf Baumwollplantagen in China, Tagelöhner in brüchigen Coltan-Minen im Kongo. Es sind (auch) deutsche Waffen, die die Bürger im Jemen, in Eritrea, im Sudan aufeinander richten. Das Elend der Welt geht uns etwas an.
Sollen wir daher alle Flüchtlinge aufnehmen? Die akut Gefährdeten auf jeden Fall. Die weit wichtigere Frage ist: Wie lösen wir die Probleme, die überhaupt zur Flucht führen? Gute Politik ist nicht kalt. Sie ist barmherzig, human – und vernünftig. Sie sucht langfristige Lösungen. Sie tut das eine, ohne das andere zu lassen (Matthäus 23,23).

Der Autor ist Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz des Bundestages und der Bundesregierung.

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