Jüdische Landesgemeinde Thüringen
"Mein Leben ist dreigeteilt"
Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Reinhard Schramm, will sich vom terroristischen Angriff der Hamas auf unschuldige jüdische Siedler am 7. Oktober 2023 in Israel nicht lähmen lassen. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat er sich Freunde, Weggefährten und Mitglieder der Landesgemeinde eingeladen. Es sei seine Aufgabe und auch die der Juden und Jüdinnen in Thüringen, mit dem religiösen Leben ebenso wie mit dem kulturellen und politischen Engagement dem furchtbaren Pogrom entgegenzutreten, sagt er im Gespräch mit Matthias Thüsing.
Herr Schramm, 80 Jahre sind ein langes Leben. Beschreiben sie es.
Schramm: Manche kennen mich ja erst seit meiner Wahl 2012 zum Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Aber zusammengefasst ist es dreigeteilt. Meine Zeit lässt sich in drei Abschnitte einteilen. Ein Jahr im Nationalsozialismus, 44 Jahre vor dem Mauerfall und bislang 35 Jahre nach dem Mauerfall.
Die ersten Jahre kennen sie sicher nur aus Erzählungen ...
Schramm: 1944 waren alle meine jüdischen Familienangehörigen ermordet. Nur meine Mutter und ich überlebten, weil mein christlicher Vater die Scheidung ablehnte und Karriere und Gesundheit opferte und weil Freunde uns versteckten. Kurz nach unserer Befreiung durch die US-Armee lösten in Weißenfels an der Saale sowjetische die amerikanischen Soldaten ab. Mein Vater arbeitete inzwischen wieder als Lehrer, verstarb aber Anfang 1948. Mutters Ausreise mit mir nach Palästina scheiterte an meinem Keuchhusten. Als ich im Mai 1948 gesund war, brach der israelische Unabhängigkeitskrieg aus. Wir blieben in Weißenfels. Wir waren vier von einst 165 Juden.
Wie offen wurde in Ihrer Familie darüber gesprochen?
Schramm: Als ich 1956 - mit zwölf Jahren - fragte, warum wir nicht nach Westdeutschland ziehen, um Entschädigung für das von den Nazis geraubte Eigentum unserer Familie zu erhalten, sagte mir meine Mutter: „Ich brauche keine Schuhfabrik. Wenn wenigstens mein Bruder das KZ überlebt hätte.“ Westdeutschland mit einem Hans Globke (1898-1973) als Staatssekretär des Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1876-1967) hatte für uns keine Anziehungskraft. Als meine Mutter 1961 den Richter Benjamin Halevi (1910-1996) im Jerusalemer Eichmann-Prozess als ihren einstigen Schulkameraden Ernst Levi erkannte, war sie aufgewühlt. Erst da brach sie ihr Schweigen über unsere Familientragödie.
Doch auch Ihr Leben in der DDR war nicht frei von Konflikten.
Schramm: Ich glaubte - anders als mein ältester Sohn und meine Frau - lange an die Reformierbarkeit der DDR. 1969 hatte ich in Berlin begonnen, als Entwicklungsingenieur zu arbeiten, ab 1972 in Thüringen an der Technischen Hochschule (TH) Ilmenau. Später als Dozent und Professor. Politisch aber waren die 80er Jahre für meine Familie anstrengend. Inzwischen hatten wir drei Kinder. Meine Frau verlor als kritische Polin und „Solidanosc“-Anhängerin ihren Arbeitsplatz. Unser ältester Sohn wurde nach zweimaliger politischer Haft aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen. Unsere Tochter kümmerte sich um Pferdesport. Für unseren jüngsten Sohn lehnte meine Frau nach seiner Geburt die DDR-Staatsbürgerschaft ab. Meine jüdische Mutter verstand die Welt nicht mehr: Hatte unsere Familie nicht schon genug deutsche Geschichte erlebt? Zum Zeitpunkt des Mauerfalls jedenfalls besaßen unsere drei Kinder drei unterschiedliche Staatsbürgerschaften: BRD, DDR und Polen.
Sie selbst haben erst spät zur jüdischen Landesgemeinde gefunden.
Schramm: Nach der Wende 1989 blieb ich an der TU Ilmenau Professor und wurde Leiter des Landespatentzentrums Thüringen Paton. Emeritiert wurde ich 2010. Meine Mitarbeit in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen begann Mitte der 80er Jahre, als meine Mutter mit fast 80 Jahren das Bedürfnis hatte, wieder die Synagoge zu besuchen. Nach dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung 1990 vergrößerte sich unsere Landesgemeinde Thüringen wesentlich. Sie wuchs dank der Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion und mit der Unterstützung des Freistaates Thüringen. An dieser Entwicklung beteiligte ich mich als stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, seit 2012 als deren Vorsitzender.
Und was bleibt angesichts der aktuellen Lage in Nahost?
Schramm: Der 7. Oktober 2023 wurde zur Zäsur unserer jüdischen Nachkriegsgeschichte. Es ist das größte Pogrom nach der Schoah, mit mehr als tausend ermordeten und hunderten entführten Juden. Erfreulicherweise erfahren wir als jüdische Landesgemeinde große Unterstützung. Doch dieses Pogrom konnte ungehemmt und ungestraft von muslimischen Antisemiten auf Berlins Straßen gefeiert werden. Es ist schockierend und traurig. Und doch darf und wird dieser Schock uns Juden nicht lähmen.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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