Kulturbeauftragter Claussen
Offene Briefe bedienen Empörungsdynamik
Offene Briefe führen nach Meinung des Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, oftmals nicht zu nachhaltigen politischen Debatten. Sie seien Symptome für den Wunsch nach Debatte, den Ausdruck von Sorge und oft auch von Hilflosigkeit, sagte er. Sie führten oft zu bloßen Symboldebatten, die politisch nicht relevant würden.
Von Franziska Hein
Das zeige sich an dem jüngsten Offenen Brief von 26 Kulturschaffenden und Intellektuellen an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich unter anderem gegen die vergangene Woche beschlossenen Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht.
Claussen sagte, er stehe Offenen Briefen distanziert gegenüber. Zum einen lösten sie eine Empörungsdynamik aus, bei der es nie um das eigentliche Thema gehe. Es gebe stattdessen ein feuilletonistisches Debatten-Ping-Pong. «Diese Offenen Briefe führen meist in die Selbstbeschäftigung einer bestimmten Schicht, und das Publikum freut sich», sagte Claussen. «Häufig gibt es eine zentrale Reizfigur - mal dieser Schauspieler, mal jene Publizistin -, an der sich die Menschen abarbeiten.» Dabei gerieten in diesem Fall die Menschen in der Ukraine schnell aus dem Blick.
Zum anderen beobachte er, dass Offene Briefe häufig schwache Texte seien. Es seien häufig Kompromisstexte, die oft auf hektische Weise entstünden. Bei dem vorliegenden Brief sei er etwa auf hochproblematische Formulierungen gestoßen. In dem Brief heißt es, es gebe eine Pflicht, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Entweder sei damit tatsächlich gemeint, es gebe die Pflicht zurückzuweichen - aber mit Gegenwehr, oder es sei einfach falsch formuliert. «Wenn man den Text als sprachliches Produkt ernst nimmt, kann man ihn als Plädoyer für eine Kapitulation lesen. Ich weiß aber gar nicht, ob es so gemeint ist», erklärte Claussen.
Auch die Formulierung, dass ein Kompromiss mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gefunden werden müsse, sei problematisch. Denn für diese Möglichkeit gebe es keine Anhaltspunkte. Man könne an diesem Brief wie an vielen anderen zudem feststellen, dass die Schreiber zu wenig mit politischen Prozessen vertraut seien. Wenn in einer repräsentativen Demokratie bereits ein Beschluss im Bundestag gefasst sei, helfe ein verspäteter Offener Brief nichts, sagte Claussen.
Natürlich hätten Prominente wie alle Bürgerinnen und Bürger das Recht und die Pflicht, sich zu wichtigen Themen zu äußern, betonte der Theologe. Prominenz sei zwar wichtig, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sei aber nicht immer gleichbedeutend mit Sachkompetenz. «Letztlich gehören solche Zeugnisse zu einer demokratischen Öffentlichkeit, die ihre eigenen Chaoselemente haben muss.» Wenn ein Offener Brief nicht das beste Mittel der Wahl sei, bleibe dennoch die Frage, wie Meinungsbeteiligung parallel zur repräsentativen Demokratie funktionieren könne.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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