Johannisempfang der EKD
Rede des Bundespräsidenten
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland am 22. Juni in in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin eine Ansprache gehalten:
Zusammensein – wie sehr hat uns das gefehlt. Und das Unterwegssein auch. Unterwegs war ich in den letzten Tagen. Erst gestern bin ich von einer Reise nach Lettland, nach Riga zurückgekehrt – von einer Reise, auf der mich Martin Dutzmann begleitet hat. Es fügt sich also gut, dass ich auch heute Abend bei Ihrem Abschied vom Amt des Bevollmächtigten, lieber Herr Prälat Dutzmann, dabei sein kann. Und ich freue mich, endlich wieder beim Johannisempfang dabei zu sein.
Seit vier Monaten herrscht Krieg in Europa, und der brutale, völkerrechtswidrige und verbrecherische Angriff Russlands auf die Ukraine hat für Millionen Menschen dort unendliches Leid gebracht. Die Bilder von zerbombten und zerstörten Dörfern und Städten, die Nachrichten über entsetzliche Gräueltaten der Aggressoren entsetzen und verstören uns. Wir stehen fest an der Seite der Ukraine, zusammen mit unseren Partnern in der NATO und in der Europäischen Union. Meine Reise nach Lettland und meine Teilnahme am Präsidentengipfel von ost- und mitteleuropäischen Staaten galt auch dem gemeinsamen Zeichen, die Ukraine stärker an die Europäische Union zu binden.
Unser Besuch in Riga hatte aber noch einen anderen, sehr schönen Grund. Dort ist nach langer Zeit der deutschen evangelischen Gemeinde sozusagen die Kirche zurückgegeben worden, die zu Zeiten der Sowjetunion enteignet und dem Gottesdienst entzogen worden war. Das war eine nicht unkomplizierte Angelegenheit, wobei das lettische Parlament, die lettische evangelische Kirche, die deutsche evangelische Gemeinde vor Ort, die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag und auch die EKD letzten Endes erfolgreich kooperiert haben.
Nun ist – in einer wunderbaren Zeremonie – die St. Petri Kirche gestern von einem Museum wieder zu einer Kirche geworden, in der auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Und keiner, der dabei war, wird das vergessen. Es war ein religiöses Ereignis – die Kirche kann wieder ihrem eigentlichen Zweck dienen; es war ein kulturelles Ereignis, das an die gemeinsamen geistigen Grundlagen Europas im Christentum erinnert; und es war auch ein politisches Ereignis, in dem die Freundschaft zwischen Lettland und Deutschland zu einem symbolischen Ausdruck kam.
Dass diese Übergabezeremonie stattfinden konnte, dafür danken ganz viele auch Ihnen, lieber Herr Dutzmann! Dieses Ereignis in Riga zeigt übrigens sehr sinnfällig die Schnittstelle zwischen Religion, Kultur und Politik, für die ja das Amt des Bevollmächtigten steht. Und dass Gutes dabei entstehen kann, wenn es hier eine Zusammenarbeit gibt, in allem Respekt vor der jeweiligen Eigenständigkeit.
Kirche und Politik, Kirche und Gesellschaft: Jeder hier weiß, dass man darüber abendfüllend sprechen kann. Ich habe aber heute Abend nur wenige Minuten und möchte mich darum auf zwei Gedanken beschränken.
Vor anderthalb Wochen hat Heribert Prantl in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung darüber nachgedacht, was eigentlich mit der Gesellschaft passiert, wenn der Ansehens-, der Mitglieder- und auch der Bedeutungsverlust der Kirchen so weitergeht. Er legt dar, warum es aus seiner Sicht Staat und Gesellschaft gar nicht guttäte, wenn die Kirchen verschwinden würden.
Er schreibt: ""In Zeiten entgleisender Modernisierung könnten die Einsichten wichtig sein, die die Religion bietet – weil in ihr die Sehnsucht nach dem ganz Anderen aufbewahrt wird."" Und weiter: ""Humanität ist nicht angeboren. Individueller Glaube ist flüchtig. Es sind Institutionen nötig, in denen die Traditionen von Liebe, Gerechtigkeit und Versöhnung eingeübt, immer wieder neu formuliert und verstetigt werden. Werte sind auf einen Glauben angewiesen […] Sie brauchen Pflege, Aufführung, Zelebration und stetige orientierende Diskussion. Sie brauchen daher auch die Kirchen.""
Da unterschreibe ich jede Zeile, aber ich weiß auch: Es ist nicht einfacher geworden für die Kirchen. Die Distanz zwischen vielen Menschen und der Kirche ist gewachsen. Und nicht alles hat mit dem Missbrauch und seiner schleppenden Aufarbeitung zu tun. Da ist noch mehr: Die Menschen wollen eine moderne, eine aufgeschlossene Kirche, die an ihrem Alltag teilnimmt, die sich ihren täglichen Problemen widmet. Und andererseits wollen sie eine Kirche, die unverwechselbar ist, die sich unterscheidet von anderen gesellschaftlichen Institutionen, die Orientierung gibt jenseits des Alltags ihrer eigenen, individuellen Erfahrungen.
Das schafft Spannungen auch für die Verantwortlichen in der Kirche, ob als Pfarrer, Bischöfinnen, Superintendenten oder wo auch immer: An der Realität der Menschen teilnehmen und gleichzeitig doch nicht auf alle guten Ideen und angesagten Trends aufspringen, das bleibt die große Herausforderung, wie ich glaube. Es gibt viel Gutes in der Gesellschaft, das auch für sich stehen und sich entwickeln kann und eher einen brüderlichen oder schwesterlichen Gruß aus den Kirchen bekommen kann als manche gutgemeinte Vereinnahmung.
Aber da, wo es keine Antworten und keine Orientierung aus selbstgemachten Weltbildern gibt, wo es um die alten und immer neuen Fragen geht, nämlich worauf wir uns im Leben und im Sterben verlassen können, da ist Zugewandtheit gefragt und eindeutige, verstehbare Botschaft. Wo es um die Fragen nach dem Sinn unserer Existenz hier auf Erden geht. Oder um die Frage, warum Solidarität und Mitleid auch lohnen, wenn es Einsatz und Hingabe kostet und nicht sofort ein Nutzen für mich selbst dabei erkennbar ist. Da sind die Christen, da sind wir Christen gefragt. Die Botschaft und das glaubwürdige Zeugnis der Kirchen sollten auch begründen und beglaubigen können: Die Nächstenliebe ist das wirklich notwendige soziale Medium. Sie hält Menschen auch in großen Nöten und Ängsten wirklich zusammen. Und sie stärkt den Wärmestrom in der Gesellschaft.
Also: Konzentration auf das Wesentliche scheint mir wichtig.
Und ein Zweites, das dazugehört: Die Kirchen sollten aufhören, vor Angst um Bedeutungsverlust zu viel nur um sich selbst zu kreisen. Im Blick sein müssen die Armen und die Schwachen, ob es psychische, spirituelle oder auch ganz praktische Nöte und Bedürfnisse sind, die hier nach Beistand rufen. Wenn wir heute beim Johannisempfang zusammen sind, dann denke ich an Johannes den Täufer, wie ihn Matthias Grünewald auf seinem Isenheimer Altar gemalt hat. Sie kennen das alle: Eigentlich besteht dieser ganze Johannes nur aus dem ausgestreckten Zeigefinger, mit dem er auf den leidenden Gerechten zeigt. Das ist, wie ich finde, die Blickrichtung und die praktische Ausrichtung, die für Kirche zählt: auf den zu Unrecht Verurteilten, den Leidenden. Auf ihn selber, ohne den unsere ganze Kirche sinnlos wäre – und auf die vielen, in denen er uns heute begegnet.
Die Würzburger Synode der Deutschen Katholiken hat 1975 in ihrem Text ""Unsere Hoffnung"" einen sehr ernsten, immer noch wahren Satz geschrieben: ""Wir werden schließlich unsere intellektuellen Bezweifler eher überstehen als die sprachlosen Zweifel der Armen und Kleinen und ihre Erinnerungen an das Versagen der Kirche."" Dem ist auch heute, siebenundvierzig Jahre später, wenig hinzuzufügen. Nicht einmal von einem Protestanten.
Liebe Gäste, liebe Schwestern und Brüder, ich habe hier weitgehend, Sie werden es bemerkt haben, als evangelischer Christ gesprochen. Aber als Bundespräsident habe ich diesen Worten mit viel Zustimmung zugehört.
Autor:Online-Redaktion |
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