Nachgefragt
"Schädlich für unser demokratisches Miteinander"
Nach dem Rückzug von Thomas Seidel vom Amt des Vorsitzenden der Internationalen Martin Luther Stiftung (IMLS) soll der Vorstand umgebaut werden. Über die Hintergründe sprach Matthias Thüsing mit der stellvertretenden Vorsitzenden Christine Lieberknecht, die derzeit die Amtsgeschäfte wahrnimmt.
Thomas Seidel begründete seinen Rücktritt unter anderem mit den Reaktionen auf seine publizistische Tätigkeit. Was war daran beziehungsweise an seinem Handeln untragbar?
Christine Lieberknecht: Ich war gerade mit Herrn Dr. Seidel zur Luther-Konferenz in Wittenberg, als – sinnigerweise an Luthers Geburtstag – auf meinem Smartphone die Meldung aufflackerte, dass das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) das Buch „Angst, Politik, Zivilcourage“ mit umgehender Wirkung „vom Markt genommen“ hat.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich es in einer freiheitlichen Demokratie nicht für möglich gehalten, dass Brüder und Schwestern, denen ich im christlichen Glauben verbunden bin, der „Demokratiefeindlichkeit“ und des „Antisemitismus“ bezichtigt werden, ohne dass sie selbst dazu gehört wurden und ohne dass sich Mitmenschen nun selbst eine Meinung bilden können, da das in Rede stehende Buch tatsächlich nirgendwo mehr erhältlich ist.
Ich halte ein solches Vorgehen für beispiellos und schädlich für unser demokratisches Miteinander. Ansonsten gilt: Die IMLS ist kein Buchclub und veranstaltet auch kein „Literarisches Quartett“. Das ist keine Sache und kein Projekt der Stiftung.
Bedauern Sie die Schärfe, mit der der Streit etwa um Thomas Seidels Haltungen in der Coronapolitik innerhalb der Stiftungsorgane ausgefochten wurde? Hätte es nicht andere Instrumente als Rücktrittsforderungen und -angebote etwa im Kuratorium geben müssen?
Thomas Seidel hatte seinen Wechsel in den Ruhestand und seine diesbezüglichen Ideen bereits im letzten Jahr skizziert. Er hat uns vorgeschlagen, dass wir mit einer umgehenden Umsetzung dieser Vorschläge eine für ihn wie für die Stiftung notwendige Trennung von Stiftungsamt und Stiftungsperspektive auf der einen und seiner freien publizistischen Tätigkeit auf der anderen Seite gewinnen. Glaubt denn etwa jemand, Herr Seidel kann auf Dauer die ungeheuerlichen und tendenziell verleumderischen Vorwürfe einfach so hinnehmen? Da stehen noch handfeste Auseinandersetzungen ins Haus, die mit der IMLS nichts zu tun haben! Und deswegen, so schmerzhaft die aktuellen Entscheidungen sind, war es das Interesse aller Beteiligten, den bereits eingeleiteten Prozess zu beschleunigen und den Wechsel im Vorstandsvorsitz der Stiftung jetzt zu vollziehen.
Haben neben Katrin Göring-Eckardt weitere Personen das Kuratorium verlassen beziehungsweise haben dies mit Verweis auf die Person Seidel angedroht?
Katrin Göring-Eckardt hat das Kuratorium ohne Angabe von Gründen verlassen. Wir haben dies mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Darüber hinausgehende Erwägungen wären Mutmaßungen und Spekulation.
Wie kann und sollte ein Nachfolger die Stiftung nun wieder zusammenführen?
Wir haben auf Vorschlag von Thomas Seidel mit Ulrich Born einen allseits anerkannten und in Leitungsfragen profund ausgewiesenen Christenmenschen als neuen Vorstandsvorsitzenden gewinnen können. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber – sorry, von „Zusammenführen“ kann keine Rede sein. Die Gremien unserer Stiftung sind sehr einvernehmlich beieinander. Herr Seidel hat mit Michael Inacker, John Kornblum, Valentin Schmidt, Klaus Winterhoff, Constanze Victor, Alexander von Witzleben, Bischof Gerhard Ulrich und anderen die IMLS seit 2007 aufgebaut und zu einer national und international beachteten und geschätzten Institution lutherischer Weltverantwortung entwickelt.
Die Liste der LutherRosen-Preisträger und der Erfolg unseres Projekts „JugendUnternimmt“ oder des "Wartburg-Experiments" der Jahre 2021/22 legen dafür ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Herr Seidel hat uns ein wohl bestelltes und für Ulrich Born und Julia Braband als Koordinatorin der Geschäftsstelle bezugsfertiges Haus übergeben.
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Autor:Online-Redaktion |
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