Musik
«An die Melodien erinnern sie sich wieder»
Demenzkranke Menschen in fortgeschrittenem Stadium haben vieles vergessen, oft sogar die Namen ihrer eigenen Kinder. Doch die Popsongs und Schlager ihrer Jugend sind tief im Gedächtnis eingespeichert, wie Musikmediziner Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover erklärt.
Erinnerungen lassen sich wieder wecken, wenn diese alten Lieder gespielt werden. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert Altenmüller, warum das so ist.
epd: Herr Professor Altenmüller, kann Musik demenzkranken Menschen helfen, ihre verschütteten Erinnerungen wiederzufinden?
Eckart Altenmüller: Ja, das kann sie definitiv. Musikalische Erlebnisse sind sehr intensive Erlebnisse, die tief im emotionalen Gedächtnis abgespeichert werden. Das sind Zentren, die in der Tiefe des Gehirns im sogenannten limbischen System liegen. Und die sind erfreulicherweise durch die Abbauprozesse bei Demenz-Krankheiten nicht so stark betroffen. Es kann sein, dass die Patienten alle möglichen Sachen vergessen, dass sie ihre Kinder und Enkelkinder nicht mehr wiedererkennen und die Namen nicht behalten. Aber an die Melodien erinnern sie sich wieder. Und man kann diese Erinnerungen wieder hervorrufen, indem man Melodien aus der Zeit spielt, in der sie emotional besonders von der Musik bewegt waren. Das ist die Jugendzeit, also etwa das Alter zwischen 15 und 25 Jahren.
Warum gerade dieses Alter?
Weil sich in dem Alter die Persönlichkeit konstituiert.
Und Musik ist dabei ein wichtiger Teil der Identität. Außerdem passieren da viele Dinge zum ersten Mal mit Musikbegleitung. Der erste Tanz oder bestimmte Feiern. Jede neue Erfahrung, die durch Musik unterstützt wird, wird besonders tief abgespeichert.
Also für die ganz Alten ist das dann «Lili Marleen» und für die etwas Jüngeren sind das die «Rolling Stones»?
Genau. Und noch eine Generation weiter wird es dann «Tokio Hotel» sein. Das ist alles Musik, die an sich schon sehr emotional ist und die wichtigen menschlichen Gefühle anspricht. Bei «Lili Marleen» ist das die Sehnsucht und die Liebebedürftigkeit. Bei «Yesterday» von den Beatles ist es die Nostalgie und das eigene Fehlverhalten. Das sind alles Dinge, die wichtige biografische Punkte in unserem Leben ausmachen.
Ist das auch bei klassischer Musik so?
Ja. Aber die emotionale Wirkung von Musik wird über Texte noch verstärkt.
Wie kommt das?
Unser Hören ist nicht nur Akustik und Klang, sondern angereichert mit Erinnerungen und Bedeutung aus unserer Erfahrung. Es entsteht eine eigene emotionale Welt. Wenn ich «Yesterday» von den «Beatles» höre, dann denke ich vielleicht: Ach, wie war das so schön im März, als ich mit meiner Freundin am See war. Das sind dann Dinge, die zusätzlich zur Musik aufaddiert werden zur emotionalen Bewegung.
Ein gutes Beispiel ist auch «We are the Champions» von Queen.
Wie haben Sie diese Zusammenhänge in ihrer Studie herausgefunden?
Wir haben mit Menschen im Koma gearbeitet. Und dabei haben wir gesehen und auch gemessen, dass Menschen, die unter dem sogenannten apallischen Syndrom leiden, auf einer unterbewussten Ebene Musikwirkungen zeigen können.
Beim apallischen Syndrom, umgangssprachlich auch als Wachkoma bezeichnet, sind wichtige Hirnregionen beschädigt. Haben Sie auch direkt mit Demenzkranken geforscht?
Nicht direkt mit ihnen. Aber wir haben die Forschungsliteratur dazu zusammengefasst. Es ist extrem schwierig, mit Demenzkranken zu forschen, weil jede und jeder von ihnen anders ist. Das sind ja alles hochgradige Individuen. Jeder hat eine andere Ursache seiner Demenz. Und jeder hat eine andere Biografie und ein anderes Krankheitsstadium. Die einen sind erregt, die anderen sind fröhlich. Die einen sind depressiv, die anderen sind wütend. Das ist extrem heterogen.
Aber Ihre Ergebnisse sind übertragbar auf Demenzkranke?
So ist es. Wir haben ganz viele Studien gesammelt, die Kolleginnen und Kollegen mit Demenzkranken gemacht haben. Und da kommt dann eindeutig heraus, dass Demenzkranke durch musikalische Stimulation aktiviert werden, wenn sie die Musik hören, die für sie früher bedeutend war. Sie können dann Gedächtnisinhalte wieder reproduzieren. Und wenn man ihnen dann ein Fotoalbum zeigt, können sie auch die Namen wieder benennen aus dieser Zeit.
Wie lautet ihre Empfehlung an Menschen, die Demenzkranke betreuen?
Wenn die Demenzkranken gern Musik hören: Sie oft Musik hören lassen und mit ihnen singen - bevorzugt die Lieder, die sie gut kennen aus ihrer jüngeren Erwachsenenzeit. Hinzu kommt: Musik kann Stress abbauen. Und als demenzkranker Mensch hat man eigentlich immer Stress, weil man ja nie weiß, was jetzt als Nächstes passiert.
Autor:Katja Schmidtke |
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