Kirchen
Den Opfern eine Stimme geben
Im Zweiten Weltkrieg schrieben tausende jüdische Menschen an den Papst aus Angst vor Verfolgung und Tod. Ein Wissenschaftsteam aus Münster, das die Bittbriefe 2020 in den vatikanischen Archiven entdeckte, rekonstruiert nun die Schicksale dahinter.
Von Helmut Jasny (epd)
Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf ist einer der besten Vatikan-Kenner. Als vor drei Jahren die Archive aus dem Pontifikat von Pius XII. (1939-1958) freigegeben wurden, reiste er denn auch mit einem Team aus sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Rom, um die Akten zu sichten. «Wir haben uns 15 Jahre darauf vorbereitet und wollten eigentlich eine neue Biografie über Pius XII. schreiben», erzählt der Professor für Kirchengeschichte. Doch in den rund 400.000 Schachteln mit je 1.000 Blatt stießen sie immer wieder auf Briefe aus der NS-Zeit, in denen jüdische Menschen aus ganz Europa den damaligen Papst verzweifelt um Hilfe baten, aus Angst vor Verfolgung und Tod.
Mit dieser Entdeckung verlagerte sich der Fokus. Schnell sei ihnen klar gewesen, dass es jetzt wichtiger sei, sich mit diesen Briefen zu befassen, als eine neue Papst-Biografie zu schreiben, sagt Wolf und betont: «Wir müssen diesen Menschen, deren Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten, wieder eine Stimme geben.» In dem Forschungsprojekt «Asking the Pope for Help - den Papst um Hilfe bitte» arbeiten er und sein Team seitdem daran, die schätzungsweise 15.000 Bittbriefe zu transkribieren und zu übersetzen. Ziel ist es, sie in einer kommentierten digitalen Edition für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Forschungsprojekt ist auf zehn Jahre angelegt.
Die Briefe stammen Wolfs Worten zufolge von jüdischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und sozialen Schichten. Die Absender berichten darin zum Teil sehr eindringlich und offen von ihrem bisherigen Lebensweg und ihrer aktuellen Not. Ihre Anliegen waren dabei unterschiedlicher Art, bei manchen ging es um finanzielle Unterstützung, anderen brauchten Hilfe zur Auswanderung, weil sie den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten zu entkommen versuchten. Manche baten für sich selbst, andere für Freunde oder Angehörige.
Wolf geht davon aus, dass es allein sechs bis sieben Jahre dauern wird, alle Briefe zu editieren. Parallel dazu werden bestimmte Fälle weiterverfolgt, insbesondere solche, bei denen gewisse Gesetzmäßigkeiten erkennbar sind, wie der Professor erklärt. Dann wird nachgeforscht, welche Wege die Schreiben innerhalb des Vatikans nahmen und wie darauf reagiert wurde.
Das ist eine detektivische Aufgabe, die ein großes Maß an Erfahrung voraussetzt. «Man muss die Begrifflichkeiten und die Abläufe in der Kurie kennen und genau wissen, wie Entscheidungen gefällt werden, um herauszufinden, wie es dann weitergeht», sagt Wolf, der die vatikanischen Archive seit 40 Jahren kennt und sich unter anderem durch Forschungen zur Inquisition einen Namen gemacht hat.
«Die Konzentration auf den Papst allein greift zu kurz.»
Interessant für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist auch die Frage, wie auf die einzelnen Bittschreiben reagiert wurde. Hier komme es auf die «Memos» der Mitarbeiter an, denn natürlich habe Pius XII. nicht alle Briefe selbst lesen können, sagt Wolf. «Die Konzentration auf den Papst allein greift zu kurz.» Auch spiele es eine Rolle, ob der jeweilige Mitarbeiter eher judenfreundlich oder judenfeindlich eingestellt gewesen sei.
Anhand der 500 bis 600 Briefe, die Wolf und sein Team bis jetzt untersucht haben, zeichnet sich ab, dass in der Mehrheit der Fälle versucht wurde zu helfen - unabhängig davon, ob die Bittsteller konvertiert und christlich getauft oder ungetauft waren. Wobei es natürlich auch darauf ankam, worum jemand bat. «Bei Geld war die Sache leicht, aber wenn es zum Beispiel um ein Visum in die USA ging, wurde es schon um einiges schwieriger», sagt der Kirchenhistoriker.
Unterstützt werden Wolf und sein Team nach einer Anschubfinanzierung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) und dem Softwarekonzern SAP. «Das Projekt ist eine einmalige Chance, nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in didaktischer Hinsicht, etwa wenn es darum geht, Schülerinnen und Schülern die Situation jüdischer Menschen im Nationalsozialismus begreifbar zu machen», betont Wolf.
Autor:Katja Schmidtke |
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