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DDR-KIRCHENVERLUSTE # 61
Die verlorene Kapelle der Charité Berlin

Kapelle der Charité kurz nach dem Bau | Foto: Gemeinfrei, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150295819
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  • Kapelle der Charité kurz nach dem Bau
  • Foto: Gemeinfrei, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150295819
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In der DDR wurden bis 1988 mehr als 60 Kirchen auf staatlichen Druck gesprengt. Die wohl bekannteste von ihnen war die Paulinerkirche Leipzig – auch Universitätskirche St. Pauli genannt – im Jahr 1968. Die Serie erinnert an verlorene Sakralbauten in Mitteldeutschland und darüber hinaus. 

Heute geht es um ein beinahe vergessenes Gotteshaus der besonderen Art in Berlin:

Die Kapelle der Königlichen Charité war von etwa 1901 bis 1958 die Krankenhauskapelle der Charité in Berlin. Ihr Standort war in Berlin-Mitte (Friedrich-Wilhelm-Stadt) an der Luisenstraße.

Geschichte und Bauwerk
An der Charité wurde im Jahr 1727 eine evangelisch-lutherische Pfarrstelle sowie 1739 eine evangelisch-reformierte Pfarrstelle geschaffen. Krankenhaus-Gottesdienste fanden in den Anstaltsgebäuden und im Speisesaal statt. In einem Gebäude aus dem Jahr 1800 wurde ein großer Raum als erste Krankenhauskapelle geweiht.

1900/01 entwarfen Georg Diestel (1854–1926) und Joseph Redlich (1857–1943) die erste eigenständige, mit Klinkern verblendete Anstaltskapelle, deren Chorfenster Harold Bengen (1879–1962) gestaltete.

Die Simultankapelle – so wird ein Gotteshaus genannt, das verschiedene Religionen zugleich nutzen – hatte eine beachtliche Größe: Sie bot Platz für 240 Personen. Der Bau-Entwurf von Georg Diestel und Joseph Redlich verzeichnet insgesamt 189 Sitzplätze.

Im Zweiten Weltkrieg im Jahr 1943 zerstörten Bomben ihr Dach. Gottesdienste gab es daraufhin zunächst im Hörsaal der Kinderklinik, später im Hörsaal der Medizinischen Poliklinik.

1954 schloss die Charité-Leitung mit den kirchlichen Institutionen einen Nutzungsvertrag für einen Zeitraum von 20 Jahren ab. Jedoch wurde dieser Vertrag – vermutlich nach Intervention von höherer politischer Stelle – im selben Jahr gekündigt: Kirchliche Seelsorge war in staatlichen Krankenhäusern der DDR offiziell nicht erwünscht.

Die Krankenhaus-Kirche diente jahrzehntelang regelmäßig zum Gottesdienst sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stätte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter Treffpunkt für Hunderte Patienten, deren Angehörige und die dort Beschäftigten. Sie war Ort der Gemeinsamkeit für Hoffnung und Genesungswillen, für Zuversicht und Freude – und auch für Trauer, Leid und Abschied.

1958 wurde die Kapelle gesprengt, offiziell um Bauland im Zusammenhang mit dem Neubau der zentralen Poliklinik zu gewinnen. Zugleich ging es offensichtlich auch darum, kirchlichen Seelsorgern endgültig die Tätigkeit an der Charité zu verwehren.

Jüngere Vergangenheit und Gegenwart
Anfang der 1990er Jahre erhielt die nun nach dem Untergang der DDR wieder mögliche kirchliche Krankenseelsorge, zu der an der Charité seit 1912 auch katholische Pfarrer gehörten, im Bettenhaus der Charité einen Gottesdienstraum.

Die seit langem bekannte Erkenntnis, dass körperliche Heilung und Gesundung des Menschen auch eng verbunden sind mit seelsorgerischer Fürsorge, hat sich nach der ideologisch verordneten Zwangspause während der DDR-Zeit ihren angestammten Platz zurückerobert.

Heute hat die Charité Berlin mit der Kapelle auf dem Campus Benjamin Franklin in Berlin-Steglitz, zwei Räumen der Stille auf dem Campus Charité Mitte und der Kapelle auf dem Campus Virchow-Klinikum in Berlin-Wedding umfangreiche und vielseitige seelsorgerische Angebote.

Diese stehen allen offen, die einen Ort des Gebetes, der Stille und der Einkehr suchen. Herzlich eingeladen sind dort auch Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen.

Koordinaten: 52° 31′ 29,6″ N, 13° 22′ 44″ O

https://de.wikipedia.org/wiki/Kapelle_der_Charit%C3%A9_Berlin
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)

Anmerkung zum letzten Beitrag dieser Serie "DDR-Kirchenverluste"
Die ausgelöschte Kapelle der Charité Berlin ist eines von mehr als 60 Kirchengebäuden, die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR bis 1988 aus politischen Gründen gesprengt wurden.

Eine offizielle Statistik über die in der SBZ und DDR gesprengten Kirchen gibt es auch mehr als drei Jahrzehnte nach Ende der DDR nicht. Die in dieser Serie dokumentierten  Beispiele beruhen auf Informationen aus frei zugänglichen Quellen. 

„Die Sprengung der Jakobuskirche Dessau war Ausdruck der kirchenfeindlichen Politik der SED, für die jede gesprengte Kirche einen Schritt auf dem Weg zum Sieg des Sozialismus bedeutete.“  
Annegret Friedrich-Berenbruch, Kreisoberpfarrerin in Dessau, Zitat von 2017
Dieses Zitat ist sicher auch für viele weitere gesprengte Kirchengebäude zutreffend. 

Vermutlich sind auch mehr als die hier dokumentierten 61 Kirchengebäude dem politischen System der SBZ und der DDR zum Opfer gefallen: 

„Die Zahl [der in SBZ und DDR gesprengten Kirchen - HZ] ist unsicher und gewiss zu niedrig. Viele Kirchenzerstörungen in kleinen Städten und Dörfern sind nicht bekannt“, so die Einschätzung des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk (zitiert nach Christoph Richter: Kirchenabrisse in der DDR: „Das Ding muss weg“. Deutschlandfunk, 2. Dezember 2020).

Holger Zürch, 16. Juli 2024

Kapelle der Charité kurz nach dem Bau | Foto: Gemeinfrei, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150295819
Kapelle der Charité Berlin, Nord-Ansicht, Entwurfszeichnung 1901 von Georg Diestel (1854–1926) und Joseph Redlich (1857–1943) | Foto: Gemeinfrei, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150263391
Autor:

Holger Zürch

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