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75 Jahre Grundgesetz
Es sollte nicht als Zombie enden

Foto: epd-bild/Norbert Neetz

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz unterzeichnet und die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Mütter und Väter der Verfassung standen in der Tradition deutscher Geschichte, wollten aber nicht deren Fehler wiederholen.

Von Nils Sandrisser (epd)

Der Präsident des Parlamentarischen Rats wählt bedeutungsschwere Worte. «Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes», sagt Konrad Adenauer (CDU) in Bonn: «Heute wird nach der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten.»

Die Unterzeichnung des Grundgesetzes vor 75 Jahren markiert in der Tat einen neuen Abschnitt in der deutschen Geschichte. Aber es war kein radikaler Neubeginn, sondern stand auf der Grundlage von Vorgängern. Gleichwohl legten die Mütter und Väter des Grundgesetzes Wert darauf, aus der Vergangenheit zu lernen: Erst vier Jahre zuvor war die menschenverachtende und verbrecherische NS-Diktatur untergegangen. «Die Würde des Menschen ist unantastbar» lautete dann auch Artikel 1.

Zum ersten Mal hatten deutsche Bürger vor mehr als 200 Jahren Freiheit und demokratische Grundrechte gefordert, als sich auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817 Studenten und Professoren gegen die Herrschaft der Fürsten versammelten. «Das erste und heiligste Menschenrecht, unverlierbar und unveräußerlich, ist die Freiheit der Person», so notierte der Jenaer Professor Heinrich Luden eine ihrer Forderungen.

An die Grundrechte-Forderungen auf der Wartburg erinnerten sich die Parlamentarier der Frankfurter Paulskirche in der letztlich gescheiterten Revolution 1848. In der Paulskirchenverfassung las es sich so: «Die Freiheit der Person ist unverletzlich.» Exakt so sollte es ein Jahrhundert später auch im Grundgesetz stehen.

Überhaupt fanden sich viele Passagen des Frankfurter Dokuments von
1848 nahezu wortgleich im Grundgesetz der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland: Die Unverletzlichkeit der Wohnung beispielsweise, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft oder das Recht, «sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln».

Eine schnurgerade Linie zwischen der Wartburg und Bonn sieht Louis Pahlow, Professor für Rechtsgeschichte an der Frankfurter Goethe-Universität, allerdings nicht. «Die Kontinuitätslinien sind zwar offensichtlich», sagt er. Aber die meisten hehren Prinzipien seien die längste Zeit nicht umgesetzt worden.

In der Weimarer Republik etwa spielten Grundrechte eine untergeordnete Rolle. Sie waren für die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative nicht bindend und waren nicht die Richtschnur, an die sich die Gesetzgebung zu halten hatte. Es war genau umgekehrt: Sie galten nur so lange, wie ein bestimmtes Gesetz sie gelten ließ. Ohnehin durfte der Reichspräsident die Grundrechte außer Kraft setzen.

Seine starke Stellung galt als eines der Hauptprobleme der Weimarer Verfassung. Am problematischsten war der Artikel 48. Ihm zufolge konnte der Reichskanzler am Parlament vorbei regieren, nämlich per Notverordnungen des Reichspräsidenten. Vor allem in den Jahren ab 1930 griffen die Reichskanzler immer häufiger zu diesem Instrument.

Das Grundgesetz hingegen räumt Bundestag und mitunter auch dem Bundesrat das letzte Wort ein. Der Frankfurter Jurist Pahlow erklärt:
«Am Parlament vorbeizuregieren lässt das Grundgesetz nicht zu. Da hat man schon etwas aus Weimar gelernt.»

Zugleich zogen die Verfasserinnen und Verfasser des Grundgesetzes Lehren daraus, wie die Weimarer Republik untergegangen war. Streng genommen war sie allerdings gar nicht untergegangen. Ihre Verfassung galt während der gesamten Nazizeit fort, als eine Art untoter Zombie, eine leere Hülle. Das lag unter anderem daran, dass das Weimarer Papier die deutsche Staatsform schlicht als «Republik» bezeichnete.
Im Artikel 20 des Grundgesetzes hieß es dagegen eindeutiger, dass die Bundesrepublik ein «demokratischer und sozialer Bundesstaat» sei.

«Der spätere Erfolg der Bundesrepublik Deutschland ist aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive auch den Erfahrungen in der Weimarer Republik zu verdanken», schreibt der Bonner Historiker Michael Feldkamp für die Bundeszentrale für politische Bildung. Dabei waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei weitem nicht immer einig darüber, was die Lehren der Geschichte seien und was wie im Verfassungstext stehen sollte. Uneins war man sich beispielsweise über die Frage, ob Frauen und Männer gleichberechtigt sein sollten.
Letztlich lautete Artikel 3, Absatz 2: «Männer und Frauen sind gleichberechtigt.»

Bei der Einigung über strittige Punkte habe der Umstand geholfen, dass das Grundgesetz ja nur ein Provisorium für die Westhälfte Deutschlands sein sollte, bis eine gesamtdeutsche Verfassung möglich wäre, erklärt der Jurist Pahlow: «Die Rahmenbedingungen waren so, dass man sich unter dem Druck der Alliierten einigen musste.» Erst am 3. Oktober 1990, nach der friedlichen Revolution in der DDR, wurde das Grundgesetz zur Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands.

Fertig ist es wohl nie. Im Jahr des 75. Jubiläums plädierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für eine Grundgesetzänderung zur Stärkung des Bundesverfassungsgerichts und mahnte: Im Gegenwind von Krise, Krieg und dem Verlust alter Gewissheiten müsse die Demokratie gegen Bedrohungen von Extremisten gestärkt werden.

Autor:

Online-Redaktion

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