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Geschichte
Fast alle erklärten sich für unschuldig

Blick in der Gerichtssaal am Tag der Eröffnung des Auschwitzprozess in Frankfurt am Main am 20.12.1963 (im Hintergrund eine Tafel mit Lagerplänen des KZ Auschwitz). | Foto: epd-bild/Klaus-Jürgen Roessler
  • Blick in der Gerichtssaal am Tag der Eröffnung des Auschwitzprozess in Frankfurt am Main am 20.12.1963 (im Hintergrund eine Tafel mit Lagerplänen des KZ Auschwitz).
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Der Auschwitz-Prozess war das erste Verfahren gegen NS-Täter vor einem deutschen Gericht. Mehr als 350 Zeugen schilderten die Gräueltaten, berichteten von den Gaskammern, von Folter und Mord. Der 95-jährige Gerhard Wiese war als Staatsanwalt dabei.

Von Nils Sandrisser (epd)

Als das Ehepaar Berner mit seinen Zwillingen an der Selektionsrampe in Auschwitz ankommt, erkennt der Arzt Mauritius Berner dort einen SS-Offizier. Victor Capesius, so dessen Name, war vor seiner SS-Zeit Pharmavertreter gewesen, so hatten die beiden sich kennengelernt. Berner geht auf Capesius zu und bittet darum, bei seiner Familie bleiben zu dürfen.

Vergeblich. «Die Frau und die Zwillinge kamen ins Gas, Berner kam ins Lager und wurde Häftlingsarzt», erinnert sich Gerhard Wiese Ende November bei einem Zeitzeugengespräch vor Jurastudierenden in Marburg. Wiese war als Staatsanwalt an der Anklage beteiligt, als in Frankfurt am Main vor 60 Jahren am 20. Dezember 1963 der Auschwitz-Prozess begann, der erste große NS-Prozess vor einem deutschen Gericht.

An Berner und dessen Geschichte könne er sich besonders gut erinnern, berichtet der heute 95-jährige Wiese: «Nach dieser Sitzung war es im Saal totenstill, und man musste erst mal verarbeiten, was der Zeuge Berner da gerade erzählt hatte.»

Auf der Anklagebank des Verfahrens saßen 22 Männer, die Anklageschrift umfasste 698 Seiten. Dass es überhaupt zu dem ersten großen Prozess der deutschen Justiz gegen Naziverbrecher kam, ist der Beharrlichkeit des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) zu verdanken. Er hatte eine Liste mit rund 100 Täter-Namen von einem Journalisten der «Frankfurter Rundschau» bekommen und ließ damit die Zuständigkeit des Frankfurter Landgerichts durch den Bundesgerichtshof herbeiführen, wobei weder der Präsident des Frankfurter Landgerichts noch der Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft davon begeistert waren, wie Wiese sich erinnert.

Der Auschwitz-Prozess, dem sich fünf Folgeprozesse anschlossen, steht in einer Reihe mit anderen großen Prozessen zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen: Den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, die 1945 begannen, und dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961.

357 Zeugen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende, schilderten an 183 Verhandlungstagen die Gräueltaten in dem Vernichtungslager. Sie berichteten von den Selektionen an der Rampe, den Gaskammern, von Folter, Erschießungen an der schwarzen Wand und der Ermordung von Häftlingen durch Injektionen mitten ins Herz. Nach heutigem Forschungsstand wurden in Auschwitz rund 1,1 Millionen Menschen getötet.

Im Frankfurter Auschwitz-Prozess erklärten sich fast alle Angeklagten für unschuldig, verharmlosten ihre Taten. Der Hauptangeklagte Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten und beteiligt am Bau der Gaskammern, sagte: «Ich persönlich habe von Exekutionen im Lager nichts gehört, nichts gemeldet, nichts befohlen.» Einzig Hans Stark, Leiter der Häftlingsaufnahme in Auschwitz, zeigte Reue. «Heute weiß ich, dass die Ideen, an die ich geglaubt habe, falsch sind», sagte er in seinem Schlusswort. «Ich bedaure meinen damaligen Irrweg sehr, aber ich kann ihn nicht ungeschehen machen.»

Der frühere Rapportführer in Auschwitz, Oswald Kaduk, sprang bei Fragen des Gerichts auf, nahm Haltung an und sagte: «Nein, das habe ich nicht getan, Herr Vorsitzender!». Vor seiner Festnahme sei Kaduk als Pfleger in einem Berliner Krankenhaus unter dem Rufnamen «Opa Kaduk» beliebt gewesen. In Auschwitz hatte Kaduk nach Augenzeugenberichten Häftlinge erschlagen, erdrosselt, erschossen und zu Tode getrampelt.

Die größte Herausforderung für Organisation des Verfahrens war nach Erinnerung des ehemaligen Staatsanwalts Wiese, dass Dokumente fehlten, die eine Schuld klar belegten. «Teilweise hat die SS sie vernichtet, teilweise hatten die Russen sie mitgenommen», sagt er in Marburg. Die Sowjets hätten nicht mit den Frankfurter Ermittlern kooperiert, Zeugen aus der DDR keine Ausreisegenehmigung für ihre Aussage vor Gericht bekommen.

Während des Prozesses, berichtet Wiese, seien bei der Staatsanwaltschaft Briefe eingegangen von «lieben Mitbürgern», wie er sagt, «in denen sie ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachten, dass dieses Verfahren überhaupt geführt wird.» Auch darum hat der Prozess eine so hohe Bedeutung für die damalige Gesellschaft und die Nachwelt: «Keiner sollte mehr bestreiten können, was in Auschwitz passierte», sagt Wiese.

Mit dem Ausgang des Prozesses sei er nicht glücklich gewesen: «Wir hatten für alle Angeklagten eine lebenslange Haftstrafe beantragt.» Verurteilt zu lebenslang wurden nur sechs der Angeklagten, elf erhielten Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und vierzehn Jahren. Drei wurden freigesprochen, zwei waren aufgrund von Krankheit ausgeschieden, einer schon vor Prozessbeginn gestorben. Insbesondere für den früheren Pharmavertreter und SS-Offizier Capesius habe er sich eine härtere Strafe gewünscht: «Capesius hat - ich darf sagen: leider - nur neun Jahre Haft bekommen, und da er relativ lange in Untersuchungshaft war, war er gar nicht mal so lange in Strafe.»

Das Erstarken von Rechtsextremismus und Antisemitismus heutzutage treffe bei ihm auf Unverständnis, sagt Wiese: «Ich kann das nur bedauern. Und ich verstehe nicht, warum Menschen nicht begreifen, was in der NS-Zeit passiert ist. Wenn wir aktuell die Nachrichten schauen, sehen wir, wie sehr wir darauf schauen müssen, dass sich diese Dinge nie mehr wiederholen.»

Autor:

Katja Schmidtke

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