Ein faszinierendes Material
„Gleichsam verschlossen und doch offenbar“
Das Internationale Jahr des Glases 2022 widmet sich einem faszinierenden und doch unterschätzten Material
Von Dirk Löhr
Wer hat’s erfunden? Die Ägypter könnten es gewesen sein oder Weise in Mesopotamien. Der älteste Hinweis auf Glas ist auf einer Tontafel aus der Regierungszeit des assyrischen Königs Assurbanipal im siebten Jahrhundert vor Christus erhalten. In Keilschrift notierte ein Schreiber: „Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meeresalgen und fünf Teile Kreide – und du erhältst Glas.“
Im Prinzip gilt das bis heute, erklärt Lothar Wondraczek. Er ist Professor für Glaschemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und deutscher Vertreter im internationalen Lenkungskreis für das UN-Jahr des Glases 2022. Die wichtigsten Ingredienzien zur Glasherstellung seien auch nach vier Jahrtausenden: „Quarzsand, Soda als Flussmittel, das niedrigere Schmelztemperaturen erlaubt, und gebrannter Kalk für die Festigkeit.“ Auch die Art der Herstellung blieb im Grunde gleich. Wird es auf 1500 Grad erhitzt, verflüssigt sich das Stoffgemisch, wie der Experte erklärt. Wenn es erkaltet, entsteht daraus das transparente Material.
„Glas heißt es, weil es durch die Klarheit Einblicke freigibt“
Ein schneller Temperaturabfall ist entscheidend. Während der Quarzsand aus Kristallen besteht, hat Glas eine amorphe Struktur. „Die Atome schaffen es nicht, sich zu regelmäßigen Strukturen zu finden“, erläutert Wondraczek. Am Ende verhält sich Glas wie eine extrem zähe Flüssigkeit. Das sorgt für Eigenschaften, die Glas unverwechselbar machen. Die Faszination des Werkstoffes fasste der Benediktiner-Abt und Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (780–856) in die schönen Worte: „Glas heißt es, weil es durch die Klarheit Einblicke freigibt“, es ist „gleichsam verschlossen und doch offenbar.“
Glas ist aus dem Alltag nicht wegzudenken und oft unersetzlich. Fenster bringen Tageslicht in jeden Raum, es dient der Aufbewahrung, wird in Autos verbaut und machte optische Errungenschaften wie Brille, Mikroskop oder Teleskop erst möglich. Dazu verschönt Glaskunst die Welt. Glas ist überall. Dennoch handelt es sich aus Sicht Wondraczeks um eines der am meisten unterschätzten Materialien überhaupt. Seine Liste der eher weniger bekannten Einsatzgebiete ist lang. Sie beginnt beim Einsatz in der Computertechnik und der Internettechnologie. „Ohne Glas keine Chips, oder, als optische Fasern, kein World Wide Web“, zählt er auf. Dazu kommen bioaktive Gläser, die langsam abgebaut werden und deren Inhaltsstoffe den Aufbau neuen Gewebes, etwa Knochen, unterstützen. Es gibt faltbare Glasdisplays, superkratzfeste Varianten für Mobiltelefone und noch viel, viel mehr.
„Ohne Glas keine Chips, oder, als optische Fasern, kein World Wide Web“
Dabei glich auch die Glasforschung über lange Zeit ein Stück weit der Suche nach Erkenntnissen in mittelalterlichen Laboren. Die Alchimisten hatten zum Beispiel entdeckt, dass in Königswasser – einem starken Säuregemisch – aufgelöstes Gold für eine intensiv rubinrote Farbe sorgt, wenn man es der Glasschmelze beifügt. Wie ihre Vorgänger versuchen auch die Wissenschaftler der Neuzeit, durch Zugabe von mehr oder weniger exotischen Stoffen die Eigenschaften des Glases zu verändern. Dieses Herangehen koste nicht nur viel Zeit, Geld und Energie, die Ergebnisse seien auch nur schwer vorherzusagen, sagt Wondraczek. Doch in den vergangenen fünf, zehn Jahren begann sich das zu ändern: „Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) gelingt es, Experimente vorhersehbarer zu machen“, sagt der Wissenschaftler. Doch wohin führt die Glasforschung? Seriöse Prognosen sind schwer abzugeben. So konnte sich lange kein Wissenschaftler vorstellen, dass Glas sehr effizient Licht leitet. Die Glasfaser-Technologie spricht inzwischen eine andere Sprache – und transkontinentale Unterseekabel sorgen sicher für einen Informationsaustausch etwa zwischen Alter und Neuer Welt.
Darum kommt das „Internationale Jahr des Glases“ für den Forscher genau zur rechten Zeit. Er hofft mit seinen Kolleginnen und Kollegen darauf, den Blick der Welt auf eines der faszinierendsten Materialien richten zu können. Vor allem junge Menschen sollten mit vielfältigen Bildungsangeboten für Glas begeistert werden, für Optik, Photonik, Medizintechnik und Raumfahrt. Fest steht schon am Beginn des Jahres: Gäbe es kein Glas, müsste es erfunden werden.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.