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Erinnerung
Ich hätte weitergehen sollen

Angestimmt: Liedermacher Matthias Gehler wurde 1990 Regierungssprecher der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel war Gehlers Stellvertreterin. Auf dem Foto verabschieden sich beide bei der letzten Pressekonferenz von den Journalisten. | Foto: Foto: Michael Ebner
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  • Angestimmt: Liedermacher Matthias Gehler wurde 1990 Regierungssprecher der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel war Gehlers Stellvertreterin. Auf dem Foto verabschieden sich beide bei der letzten Pressekonferenz von den Journalisten.
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Matthias Gehler arbeitete 1990 als Redakteur beim CDU-Zentralorgan »Neue Zeit«, als ihn nach dem Machtwechsel der Ruf ereilt, Regierungssprecher zu werden. In seinem Buch »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« hat er seine Erinnerungen zusammengetragen – an das Jahr, in dem sich die DDR abschaffte. Ein Auszug.

Von Matthias Gehler

Handys sind noch nicht erfunden. Digitale Steinzeit. Ohne eine Information laufe ich in die Falle. Ich betrete das Foyer der CDU-Parteileitung am Berliner Gendarmenmarkt. Mehrere Kameras sind aufgebaut. Nach oben hat man die Medien nicht gelassen. Der Raum ist hell erleuchtet. Ich bin geblendet, blinzle mit den Augen und will nur schnell durchkommen und den Treppenaufgang mit den breiten, steinernen Stufen erreichen. Journalisten sind lästig.

Ich habe es geschafft, stehe auf der ersten Stufe und bin erleichtert. Da ruft einer hinter mir her: »Sie sind doch der Referent von Martin Kirchner?« Ich drehe mich um, stehe jetzt etwas erhöht, für alle sichtbar und sage naiv: »Ja.« Ich hätte einfach weitergehen sollen. Ich hätte schweigen sollen. Anfängerfehler. Eitelkeit. Ehrlichkeit. Abenteuerlust. Neugierde. Die Kameras schwenken auf mich. »Was sagen Sie dazu, dass Martin Kirchner in der Stasi gewesen sein soll?« Darauf war ich nicht gefasst. Ich hatte nie davon gehört und antworte aus Loyalität zu meinem Chef, dem neuen Generalsekretär der CDU der DDR: »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

Ich drehe mich wieder um und steige die Stufen hinauf in die erste Etage. Hier ist vor kurzem Lothar de Maizière eingezogen. Die Journalistentraube habe ich hinter mir gelassen und weitere Fragen nach Martin Kirchner ignoriert. Die Tür zum Büro des Parteivorsitzenden ist offen und ich gehe hinein. Die Büroleiterin Sylvia Schulz und mehrere Mitarbeiter stehen um ihren Chef im Halbkreis und beratschlagen, was nun, angesichts der wartenden Journalisten, die eine Stellungnahme von de Maizière zu den Stasivorwürfen gegen seinen Generalsekretär erwarten, zu tun sei. Ich stelle mich dazu.

Foto: Foto: M. Gehler

Hintergrund

Matthias Gehler, geboren 1954 in Crimmitschau, gelernter Elektriker, studierte Theologie von 1975 bis 1980. Danach war er als Pfarrer und seit 1987 journalistisch tätig. 1990 wurde er als Regierungssprecher berufen. Nach dem Ende der DDR war er an der Etablierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Osten beteiligt. Ab November 1991 arbeitete er beim MDR Thüringen als Chefredakteur der Radio-, Fernseh- und Online-Programme. 

Kirchner ist nicht in der Runde. Er hat sich krankgemeldet und ist zu Hause in Eisenach. Für die Pressearbeit der Partei bin ich nicht zuständig; dafür gibt es Helmut Lück. Man beschließt die Sache Kirchner selbst zu überlassen und nichts zu sagen. Das ist keine gute Situation für mich. Ich habe schon etwas gesagt und kann jetzt nur hoffen, dass für die Journalisten die Stimme eines Referenten völlig unbedeutend ist. Doch dem ist nicht so. Journalisten klammern sich an alles. Weil sich sonst niemand geäußert hat und Lück ihnen nur sagt, dass sie sich an Kirchner selbst wenden sollen, sehe ich mich am Abend plötzlich im Fernsehen mit dem Spruch wieder: »Das kann ich mir nicht vorstellen«. Im Insert stehen mein Name und meine Funktion. Ich gerate in Panik. In solchen Fällen werde ich zumeist aktiv.

Ich setze mich in meinem »Wartburg« hinters Steuer und fahre los. Mein Ziel ist Martin Kirchner in Eisenach. Es ist schon dunkel. Mit Tempo einhundert, wegen der Geschwindigkeitsbegrenzung, weil der Wagen kaum mehr schafft und weil die Betonplatten auf der A9 schlecht aneinandergereiht sind. Ich habe Zeit nachzudenken, wie ich überhaupt in diesen Politzirkus hineingeraten bin. Das war im Spätherbst 1989. Ich saß in einem verrauchten Redaktionsraum der "Neuen Zeit", Organ der Christlich-Demokratischen Union der DDR, und kümmerte mich um einen Artikel für Seite drei. Das Telefon klingelte. Wulf Trende, seit 1968 Mitarbeiter im CDU-Hauptvorstand und seit 1975 Leiter der Abteilung Kirchenfragen, meinte, ich solle doch mal »rüberkommen«.

Die Parteileitung residierte in einem schmucken Gebäude am Gendarmenmarkt. Ich ging die edle Treppe ganz nach oben, wurde freundlich empfangen und gebeten, vor Trendes Schreibtisch Platz zu nehmen. Trende, den ich nie zuvor gesehen hatte, schmeichelte mir: »Herr Gehler, wir wissen, Sie leisten gute Arbeit bei der 'Neuen Zeit' und stehen für Veränderung. Sie betreuen die Kommunikationsseite, schreiben gute Berichte und nebenbei sind Sie auch kulturell noch als kritischer Liedermacher unterwegs. Hier wird sich auch vieles verändern. Wollen Sie nicht zu uns kommen?«

Ich war überrascht: »Was soll ich denn hier machen?« Trende zeigte sich entschlossen: »Sie sollen Referent des CDU-Generalsekretärs Martin Kirchner werden«. Ich wollte um Himmelswillen nicht in einem Verwaltungsapparat landen und schon gar nicht in dem einer Partei. Deshalb fragte ich: »Was soll ich da tun?« Jetzt meinte Trende wohl, ich hätte angebissen. Er versuchte, seinen Fisch an Land zu ziehen. So warb er für meinen zukünftigen Job in rosigen Farben: »Sie können ja gut schreiben. Sie werden Reden für den Generalsekretär ausarbeiten. Sie werden wichtige Termine mit Herrn Kirchner wahrnehmen, ihn darauf vorbereiten und danach Protokolle anfertigen. Sie werden vertrauliche Briefe beurteilen und beantworten. Sie werden da sein, wenn der Generalsekretär Sie braucht.«

Ich erbat mir etwas Bedenkzeit. Die wurde mir auch gewährt. Auf dem Rückweg in die Zeitungsredaktion dachte ich darüber nach, was ich bezüglich des Reformprozesses in der CDU bislang als Journalist schon erlebt hatte. Die Kritik innerhalb der Partei, die ab 1987 lauter geworden war, hatte für die Kritiker mitunter erhebliche Konsequenzen gehabt. Die zentrale Führungsrolle der SED im Parteiensystem der DDR war von Anfang an, vor allem innerhalb des Fußvolkes der CDU immer wieder ein Thema. Viele sahen die CDU trotzdem als Alternative zur SED. Mit dem CDU-Parteibuch in der Hand war es immerhin noch möglich, begrenzt Karriere zu machen. Es waren sogar abweichende Positionen wie zur Abtreibung und natürlich die Kirchen-Mitgliedschaft geduldet worden.

Vor allem aber hatte sich die CDU nie zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung bekannt. Es ist insofern schlichtweg falsch, wenn Oskar Lafontaine, der Parteivorsitzende der SPD und spätere Linken-Vorsitzende, irgendwann behauptete, die CDU in der DDR sei eine kommunistische Partei gewesen. Wegen der kleinen Unterschiede hatte die CDU in den achtziger Jahren einen kontinuierlichen Mitgliederzuwachs erfahren. 1988 wagten es Vorsitzende von Ortsgruppen im Bezirk Frankfurt an der Oder und in Sachsen, öffentlich die führende Rolle der SED infrage zu stellen. In Neuenhagen bei Strausberg wurde schriftlich die Bevormundung durch die SED angeprangert. Es wurden Parteienvielfalt und eine Änderung des Wahlrechts gefordert.

Solche »Revolten«, auch wenn sie sich auf Glasnost und Perestroika beriefen, hatten Konsequenzen. Mir wurde in der Redaktion bekannt, dass eine Ärztin, die CDU-Ortsgruppenvorsitzende Else Ackermann, durch ihre Aufmüpfigkeit ihre Stellung an der Akademie der Wissenschaften verloren hatte. Selbst die Staatssicherheit registrierte in ihrer Information 502/89 die Alt-gegen-Neu-Rebellion innerhalb der CDU, bis hin zur Idee eines neuen Wahlgesetzentwurfs, der nicht mehr vorsah, im Block mit der SED-Kandidaten aufzustellen.

Die CDU-Parteiführung dagegen hatte sich im System eingerichtet. Bis auf die in den Westen geflüchteten Parteiführer Jakob Kaiser und Andreas Hermes, konnten dann die Funktionäre der siebziger und achtziger Jahre gut damit leben, eine willfährige Statistenrolle zu spielen, solange die Zuschüsse aus der Gesamt-Parteienfinanzierung der DDR stimmten. Es ging ihnen persönlich gut. Damit das so blieb, forderte noch Ende September 1989 der Hauptvorstand der Partei die CDU-Mitglieder auf, sich in Mitgliederversammlungen gegen die »zügellose Hetze gegen den sozialistischen deutschen Staat« zu wenden.

In der Redaktion der "Neuen Zeit" begann das Nachdenken mit Gorbatschow. Ich erinnere mich an eine Redaktionskonferenz, auf der Redakteure, die 1987 die Sowjetunion besucht hatten, von ihren Erlebnissen mit Glasnost und Perestroika in den russischen Medien berichteten. Sie entfachten ein kleines Feuer und die in der Konferenz öffentlich gestellte Frage: »Was können wir hier tun, und wie weit können wir gehen?« So entstanden sehr vorsichtige Reformbestrebungen innerhalb des Union-Verlages. Es wurde zum Beispiel beschlossen, die Seite 3 der Freitagsausgabe dem Thema »Kommunikation« zu widmen. Ich bin meiner Chefin Carola Schütze heute noch dankbar, dass ich die Seite betreuen durfte. Das hat mir Spaß gemacht, ging es doch um konkrete Beziehungsthemen und soziale Konflikte.

Wir hatten in der Redaktion ein sehr kollegiales Miteinander und so beratschlagte ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen den »Ruf der Partei«, der mich ereilt hatte. Wulf Trende, der mir den neuen Job schmackhaft gemacht hatte, rechnete innerhalb der Altfunktionäre zu den Reformern. Die Position der Erneuerungswilligen war im Spätherbst 1989 inzwischen gestärkt. Also sagte ich »Ja« und wechselte in die CDU-Parteileitung.
Der studierte Jurist Kirchner gehörte seit 1967 der CDU an. Neben der Mitarbeit im Hauptvorstand der Partei war er Leiter des Kreiskirchenamtes Gera und seit 1987 juristischer Oberkirchenrat, Synodaler und stellvertretender Vorsitzender des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. Er residierte seit dem Sonderparteitag Mitte Dezember 1989 als Generalsekretär in der zweiten Etage des Neubaus am Gendarmenmarkt, über dem Büro des neuen Parteivorsitzenden Lothar de Maizière.

Als ich – sein neuer Referent – erstmals sein Büro betrat, fand ich einen kleine Mann vor, der stolz, aber verloren in einem viel zu großem Ledersessel saß. Er blieb dort zur Begrüßung sitzen und nahm sofort Bezug auf dieses Sitzmöbel. Er erzählte, dass hier der Stellvertreter des früheren Parteivorsitzenden Gerald Götting, Wolfgang Heyl, gesessen habe, aber diese Zeit sei ja jetzt vorbei. Kirchner hatte räumlich Besitz vom Thron ergriffen. Was ihm aber nicht wirklich gelang, denn in diesem riesigen Sessel schien er unendlich verloren. Es war wie ein Bild aus einem Comic. Da hatte jemand ein viel zu großes Amt bekommen. Die ganze Szene wirkte lächerlich und befremdlich auf mich.

Als sein Referent signalisierte mir Martin Kirchner eine gewisse Überlegenheit gegenüber dem neuen CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière. Er erklärte mir alles noch einmal aus seiner Sicht, was ich vom Parteivorsitzenden gehört hatte. Oft agierte er eigenständig, ohne sich um die Meinung seines Chefs zu kümmern. Stand ich dabei, wenn er Interviews gab, redete er wie ein Vorsitzender. Einige Trümpfe hatte er in der Hand. Kirchner war Synodaler, hatte eine leitende Kirchenfunktion inne, kam aus einem starken CDU-Kreisverband und war Mitautor des »Briefes aus Weimar«, dem Reformpapier der CDU. Seine Stellung schien gefestigt.

Kirchner forderte sehr oft seinen Vorsitzenden heraus: Er vertrat vehement die Ansicht, dass seine Partei die Zusammenarbeit mit der SED beenden und die sogenannte Nationale Front und schließlich die Modrow-Regierung verlassen sollte. Lothar de Maizière war anderer Meinung. Er meinte, dass das Land angesichts der vielfältigen Aufgaben in der Wendezeit eine breit aufgestellte Führung brauchte. Dieser Verantwortung dürfe sich die CDU nicht entziehen. Er gehörte dem Modrow-Kabinett als Minister an und war einer der drei Stellvertreter des Ministerpräsidenten.

Hans Modrow, seit 1973 Parteichef im Bezirk Dresden, war am 13. November 1989 von der Volkskammer mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Anfang Februar 1990 nahm er Vertreter der neuen oppositionellen Gruppierungen des zentralen Runden Tisches als Minister ohne Geschäftsbereich in die Regierung auf. Er nannte sie »Regierung der Nationalen Verantwortung«. Sie sollte bis zum 12. April amtieren.

Hinter Kirchners Forderung, die CDU solle die Regierung verlassen und in Opposition gehen, standen viele Kreisverbände und insbesondere die im Thüringer Raum, so auch der in Mühlhausen und Eisenach. Es kam schließlich zur öffentlichen Machtprobe zwischen Martin Kirchner und Lothar de Maizière. Der Generalsekretär verkündete Mitte Januar 1990 der Presse, dass die CDU aus der Modrow-Regierung aussteigen werde. Lothar de Maizière und sein Stab waren entsetzt. Das war nicht abgesprochen.
Der hugenottische Preuße de Maizière war bei solchen Disziplinverstößen kaum zu halten. Ich wurde in sein Büro zitiert und zur Rede gestellt. Ich beteuerte, von dem Komplott nichts gewusst zu haben, was auch stimmte. Parteichef de Maizière dementierte Kirchner, die CDU werde nicht die Modrow-Regierung verlassen. Die Westberliner "taz" zitierte am 19. Januar 1990 einen CDU-Sprecher mit der Erklärung de Maizières, dass die Äußerung des Generalsekretärs nicht mit ihm abgesprochen gewesen sei …

Und nun diese Sache mit der Stasi. Drei Tage vor der Volkskammerwahl am 18. März. In dieser auch innerparteilich zugespitzten Lage fahre ich nach Eisenach, um Kirchner zu fragen, ob er Stasi- Mitarbeiter gewesen ist. Die Adresse des Generalsekretärs und eine Karte liegen neben mir auf dem Beifahrersitz. Ich halte vor einer größeren Villa, steige aus. Kirchner steht auf dem Klingelschild. Es ist Mitternacht. Ich läute Sturm. Martin Kirchner öffnet die Tür mit zerzausten Haare und im Bademantel, einen langen Schal um den Hals gewickelt.

Er ist erstaunt. »Sie sind extra aus Berlin hierhergekommen?« Ich bejahe und erzähle. »Ich bin von Journalisten gefragt worden, ob Sie in der Stasi waren, und ich habe gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Jetzt möchte ich wissen, ob Sie für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben oder nicht.«
Martin Kirchner bittet mich herein und setzt sich in einen Sessel. Dieser ist nicht aus braunem Leder wie der in seinem Büro und auch nicht so wuchtig. Dieser Sessel ist mit Stoff überzogen, hat Holzlehnen und scheint für seinen Besitzer maßgefertigt.

Kirchner bietet mir einen Stuhl an. Ich setze mich ihm gegenüber. Der kranke Generalsekretär sitzt rangmäßig höher als ich und wiederholt ungläubig und erstaunt: »Da sind Sie wirklich nur wegen mir gekommen?« Die Frage klingt rhetorisch. Sein Blick wechselt zwischen Bewunderung, Stolz und Distanz. Die Szene hat etwas sehr Privates. Zudem sind wir schließlich in seiner Wohnung. Ich habe immer noch meinen Mantel an und will ihn auch nicht ausziehen, denn ich möchte gleich wieder nach Berlin zurück.

Kirchner richtet sich auf und wirkt nun wie ein Lehrer: »Herr Gehler, wo denken Sie hin! Natürlich war ich nicht in der Stasi. Das ist alles eine Intrige. So ist die Politik.« Es folgt eine kleine Belehrung über politische Machtspiele, dann hält er inne: »Sie sind wirklich deshalb aus Berlin hierhergekommen?« Ich bestätige zum wiederholten Male.

Wir reden noch etwas über seine Krankheit. Dann steige ich erleichtert in mein Auto. Er war nicht dabei. Ich denke während der Rückfahrt darüber nach, als ich im September letzten Jahres als Berichterstatter für die "Neue Zeit" in Eisenach war. Es ging um den »Brief aus Weimar«, der auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt worden war und eine Rebellion innerhalb der CDU auslöste.

Zur Gruppe der Aufsässigen hatte Martin Kirchner gehört. Wie konnte ich jetzt an seiner Integrität zweifeln. Wie konnte einer wie er auch nur annähernd in Verdacht geraten, mit der Stasi gekungelt zu haben? Mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass Kirchner so eine weiße Weste hat wie ich selbst.

Kirchner war prominenter Vertreter des Reformpapiers, nicht dessen Urheber. Das war Gottfried Müller gewesen, ein promovierter Theologe und seit 1981 Chefredakteur der Kirchenzeitung "Glaube und Heimat", die in Thüringen erscheint. Müller wirkte immer ein wenig zerstreut, war aber ein kluger Kopf und verfügte über jene Entschlossenheit, die man brauchte, um zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Seine Ko-Autoren waren Christine Lieberknecht, Martina Huhn und Martin Kirchner.

Der »Brief aus Weimar« forderte Veränderungen innerhalb der DDR-Struktur. In dreißig Punkten beschrieb er die sich aktuell zuspitzende Situation im Land. Immer mehr Menschen verließen die DDR. Die Kirchen waren zu Demokratieorten geworden, und die CDU, so hieß es, sollte ebenfalls der Demokratie Raum geben. Sie sei »herausgefordert, ihre gesellschaftliche Mitverantwortung an höheren Maßstäben zu messen«. Die »innerparteiliche Demokratie« solle sich nicht am »demokratischen Zentralismus« orientieren, hieß es in dem Brief. Die Meinungen der CDU-Mitglieder sollten »authentisch zum Ausdruck« gebracht werden dürfen. Es wurden mehr Offenheit, Reisefreiheit, Wahlfreiheit, Pressefreiheit und Transparenz von Verwaltungsentscheidungen gefordert.

Im Gründungsstatut der Bürgerrechtsbewegung Neues Forum mit Bärbel Bohley war das alles zwar viel schärfer formuliert worden, aber hier sagte dies eine Partei mit rund 130.000 Mitgliedern. Das war ein Quantensprung. Um sicher zu gehen, dass der »Brief aus Weimar« bekannt und nicht unter Verschluss gehalten wurde, wollten Müller, Huhn und Kirchner das Papier auf einer Pressekonferenz vorstellen. Da alle Autoren des Briefes in kirchlichen Diensten standen, hatten sie die Pressekonferenz am Rande der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am 17. September in Eisenach platziert. Das brachte neben dem Überraschungseffekt genügend Aufmerksamkeit wegen der anwesenden Journalisten.

Ich war als Berichterstatter für die "Neue Zeit" bei der Synode. Übernachtet hatte ich im CDU-Gästehaus unterhalb der Wartburg. Ich teilte ein Zimmer mit einem Kollegen der Kirchenredaktion. Auch er sollte später als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt werden.

Ich gehörte zur Redaktion Innenpolitik und wollte den Brief in der "Neuen Zeit" veröffentlichen. Das wurde von meinen Vorgesetzten abgelehnt. Diese hatten Order von der CDU-Führung. Die Autoren des Schriftstücks waren angeblich zu weit gegangen. Allerdings: Weil West-Journalisten bei der Synode zugegen waren, flimmerte der Brief alsbald über die Bildschirme der bundesdeutschen Medien. Damit war die Sache in der Welt. Trotzdem versuchte die Parteiführung in Berlin, die Weitergabe des »Briefes« in die Kreisverbänden der CDU zu verhindern. Bereits verschickte Exemplare wurden eingesammelt.

In den Folgetagen war ich Andruckredakteur und habe mit einem sehr vertrauenswürdigen Drucker diskutiert, ob ich etwas von der Seite nehmen könnte, um auf eigene Faust den Brief zu veröffentlichen. Der Drucker wollte mitmachen, aber letztlich fehlte uns beiden der Mut, konspirativ den Andruck zu verändern. Der Parteivorsitzende Götting sprach den Autoren Redlichkeit ab und setzte darauf, die Angelegenheit zu zerreden, indem Leserbrief mit kritischer Haltung zum »Brief aus Weimar« und seinen Autoren in der Neuen Zeit zu platzieren.

Das Thema aber war gesetzt. Der Weimarer Brief stieß bei Mitgliedern, aber auch bei Funktionären auf Kreisebene auf große Zustimmung. Endlich werde das ausgesprochen, was im Volk schon seit geraumer Zeit breit diskutiert wurde. In Jena verfasste der Kreisvorstand eine unterstützende Erklärung, in Eisenberg betonte man, dass der Brief »wichtige Fragen« enthalte. Kreisvorsitzende kritisierten die Parteiführung in Berlin, weil sie ihnen und den CDU-Mitgliedern vorschreiben wollte, wie sie mit dem »Brief aus Weimar« umgehen sollten.

Als es in der DDR im Oktober 1989 immer mehr Protestdemonstrationen gab, wurde auch in der CDU die Kritik lauter. Die Mitglieder der Ortsgruppe Niedergebra im Kreis Nordhausen erklärten, dass keine Partei einen »alleinigen Führungsanspruch« habe, weite Teile der Basis sahen die Parteiführung um Gerald Götting als nicht mehr tragbar an. Ich erlebte in der CDU-Zentrale in Berlin eine Veranstaltung, bei der vor allem jüngere Parteimitglieder offen den Aufstand probten und Götting sich unbeholfen zur Wehr setzte. Es wurde ein Sonderparteitag gefordert. Die Union sollte sich personell und programmatisch neu aufstellen.

Erst am 12. Oktober, nachdem am Tag zuvor die SED-Spitze anfing, vom »Dialog« zu reden, schwenkte Gerald Götting um und nannte den Brief einen »Anstoß«. Am 1. November drängte eine Gruppe von Parteimitgliedern, zu denen auch Autoren des "Weimarer Briefs" gehörten, den Parteivorsitzenden zum Rücktritt. Gerald Götting beugte sich schließlich dem Unmut und gab am 2. November 1989 sein Amt als Parteivorsitzender auf.
In den Folgewochen löste sich die CDU aus der Gefolgschaft der SED und artikulierte eigene Ziele. Es kam zum Sonderparteitag, der am 15. und 16. Dezember im Berliner Kino »Kosmos« stattfand. Die knapp 800 Delegierten bestätigten Lothar de Maizière, der noch im November vom alten Hauptausschuss nominiert worden war, als Vorsitzenden der CDU und beschlossen die Abkehr vom Sozialismus. Auf diesem Sonderparteitag war auch Martin Kirchner zum Generalsekretär der CDU gewählt worden.

Am Morgen nach meinem Ausflug nach Eisenach sitze ich unausgeschlafen im kleinen Kreis mit Lothar de Maizière. »Sie waren in der Nacht mit Ihrem Privat- wagen in Eisenach bei Martin Kirchner?« Ich bin erstaunt, denn ich hatte es niemandem erzählt. »Ich wollte wissen, ob er bei der Stasi war oder nicht.« Alle halten den Atem an und schauen ungläubig. Sie werten diese Fahrt zuerst als ein persönliches Bedürfnis nach Klarheit. Skepsis ob des Erfolgs der Aktion liegt ebenfalls in den Blicken.

Lothar de Maizière fragt nüchtern: »Und, war er? Was hat er gesagt?« Ich lehne mich erleichtert zurück: »Martin Kirchner war nicht dabei. Das hat er mir versichert.« Das war, wie sich schon bald herausstellen wird, eine Lüge. Seit 1971 war er eine Top-Quelle des MfS. Er wurde sehr gut bezahlt und berichtete als Mitglied der Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und Stellvertreter des Landesbischofs regelmäßig. Geführt wurde er als IM Küster und IM Andreas.

Der schwelende Verdacht sollte am 2. August 1990 aufbrechen. Er wurde von seiner Funktion als Generalsekretär entbunden und ging auch seines Volkskammermandats verlustig, das er am 18. März bekommen hatte. Im Jahr darauf würde er auch die CDU verlassen. Davon aber wissen wir in jenen Tagen noch nichts. Am 6. März 1990 erscheint in der "Jungen Welt", der auflagenstärksten Tageszeitung der DDR, ein Interview mit Martin Kirchner, dem »zweiten Mann in der DDR-CDU«. Auf die Fragen von Frank Schumann zum Kurs der CDU antwortet Kirchner: »Wir sind die Partei, die es sich mit ihrer Vergangenheit nicht leicht macht. Wir meinen es ernst, wenn wir sagen, wir brauchen einen Prozess der Buße. Wir stehen zur Schuld der Partei. Für Christen aber gilt: Wenn ich ein Schuldbekenntnis ablege und zur Umkehr bereit bin, dann gibt es auch Versöhnung und Vergebung.«

Im heutigen Wissen würde man meinen, er sprach nicht nur pro domo, sondern vielleicht auch für sich selbst. Lothar de Maizière fragt mich, ob ich nicht in Vertretung für Martin Kirchner nach Wuppertal fahren könne. Da tage der Evangelische Arbeitskreis (EAK) der CDU/CSU. Es ist die erste Bundestagung, an der auch Gäste aus der DDR teilnehmen sollen. Die Informationen im Vorfeld sind spärlich. Aber ich erkläre mich bereit, nach Wuppertal zu reisen. Ich soll ein kleines Referat zur »Freiheit eines Christenmenschen« nach Martin Luther halten und anschließend an einer Podiumsdiskussion teilnehmen.

Weder weiß ich, wer mit auf dem Podium diskutieren wird noch wie das sonstige Programm aussieht. Nachts schreibe ich – denn am Tag ist keine Zeit – und verflechte die theologische Freiheit Martin Luthers mit der neuerworbenen Freiheit durch die friedliche Revolution in der DDR. Am nächsten Morgen setze ich mich in mein Auto und fahre nach Wuppertal. Am frühen Abend treffe ich dort ein. Man erwartet mich bereits. In meiner Vorstellung ging ich von einer kleineren Fachtagung aus.

Im Saal sitzen gefühlt tausende Menschen. Ich werde nach vorn geführt und auf dem Podium neben Bundesminister Norbert Blüm platziert – auf dem Platz von Martin Kirchner, der auch im Programmheft angekündigt ist. Zudem sitzt mit am Tisch Christine Lieberknecht, Mitautorin des »Briefes aus Weimar«. Wir Ossis haben einen Exoten-Status und werden bei allem, was wir sagen, mit Beifall bedacht.

Am nächsten Tag, kurz vor der Schlussveranstaltung, marschiert Helmut Kohl ein. Die Leute springen auf und applaudieren frenetisch. Das erinnert fatal an die Jubelarien für Erich Honecker. Ich bin geschockt. Das auf einer Tagung eines christlichen Arbeitskreises. Als Liedermacher habe ich gegen Personenkult angesungen, ich war auf die Straße gegangen, weil ich eine solche Vergötzung widerlich fand.

Die Ansprache des Kanzlers zielt sehr pointiert auf die deutsche Einheit gerichtet: »In einem vereinten Deutschland wird der Anteil der evangelischen Christen deutlich höher sein als heute in der Bundesrepublik. Das stellt für die Union eine neue Herausforderung dar. Der evangelische Arbeitskreis ist für die CDU und CSU eine unentbehrliche Brücke zur evangelischen Kirche – wie ich hoffe, demnächst auch zur evangelischen Kirche in der DDR. Es gilt, auch im Hinblick auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, das Engagement evangelischer Christen in der Union zu fördern und zu bekräftigen. Hier wächst dem evangelischen Arbeitskreis eine wichtige neue Aufgabe zu.«

Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises ist seit Kurzem Peter Hintze, ein ehemaliger Pfarrer, der 1983 vom seinerzeitigen Bundesfamilienminister Heiner Geißler zum Bundesbeauftragten für den Zivildienst berufen worden war und es gegenwärtig noch ist. Hintze sollte 1992 Generalsekretär der CDU werden und im Wahlkampf 1994 die Rote-Socken-Kampagne erfinden. Bis zu seinem Tod 2016 hielt ich lockeren Kontakt zu ihm. Jahre später nach unserer ersten Begegnung in Wuppertal gestand er mir, dass er von meinem Beitrag und besonders von meinem Wortwechsel mit Norbert Blüm angetan gewesen sei: »Ihr Ostdeutschen wart ansonsten nicht immer so redegewandt. Der Auftritt war absolut erfrischend. Es war ein Super-Erlebnis.« Er habe davon auch dem Kanzler und de Maizière berichtet.

Möglicherweise war das für meinen weiteren Werdegang nicht ganz ohne Bedeutung. Mit Hintze habe ich wiederholt über die Verbindung von Theologie und Politik gesprochen. Er hat anders geglaubt als ich. Er hat nach meinem Eindruck nur mit dem Kopf geglaubt, auch wenn die christlichen Werte für ihn Maßstab für die Beurteilung von Politik waren. Ich habe noch Notizen zu einem Gespräch mit ihm über die Mündigkeit der Bürger, die in einer Demokratie die Mächtigen garantieren müssten, so sehr Politiker auch versucht seien, den Bürgern ihren Willen und ihre Ideologie aufzudrücken.

Hintze: »Es ist falsch zu denken, nur weil man vom Bürger gewählt ist, könnte man für die Zeit einer Legislatur Despot sein.« Der Bürger wiederum müsse seine ihm gelassene Freiheit gestalten. Das sei seine Verantwortung. Auch wenn Hintze vielen Politiker vertrauter Berater war und enormen Einfluss sowohl auf Helmut Kohl und als ihr Staatssekretär auf Angela Merkel hatte, blieb er politisch in der zweiten Reihe.
Sein sehr förmliches »Herr Bundeskanzler« er schien mir immer etwas übertrieben, dennoch war er kein serviler Ja-Sager. Seine Logik war brillant, auch den Widerspruch vermochte er überzeugend vorzutragen. Für ihn war es zum Beispiel völlig unlogisch, dass Experimente an Embryonen im Labor verboten, aber Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sein sollten. Ein Zellhaufen sei nicht das Gleiche wie ein Kind. »Was retten Sie, wenn es in einem Krankenhaus brennt: den Kühlschrank mit den Reagenzgläsern oder die Kinderabteilung?«

Gehler, Matthias: Wollen Sie die Einheit – oder nicht? Erinnerungen des Regierungssprechers, Verlag edition ost, 256 S., ISBN 978-3-360-02816-7; 18 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchenzeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61

Tipp: Lesung mit Matthias Gehler am 19. April, 19.30 Uhr, zur Erfurter Frühlingslese im Haus Dacheröden
Mehr Infos:
herbstlese.de

Angestimmt: Liedermacher Matthias Gehler wurde 1990 Regierungssprecher der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel war Gehlers Stellvertreterin. Auf dem Foto verabschieden sich beide bei der letzten Pressekonferenz von den Journalisten. | Foto: Foto: Michael Ebner
Foto: Foto: M. Gehler
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