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Diakonie
Lilie: Nicht alle können mit dem Wandel Schritt halten

Ulrich Lilie | Foto:  epd-bild/Heike Lyding

Im 175. Jubiläumsjahr der Diakonie erinnert der Präsident des Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Lilie, an die Grundüberzeugung der evangelischen Sozial- und Hilfseinrichtungen: «Gott will, dass allen Menschen geholfen wird.» Daher komme es heute in Zeiten der Klimakrise und wachsender sozialer Ungleichheiten darauf an, den Wandel und die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht zu gestalten. «Niemand darf zurückbleiben, das bleibt der Anspruch der Diakonie», sagte Lilie im Gespräch mit Markus Jantzer.

epd: Vor 175 Jahren im Revolutionsjahr 1848 wurde auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg der sogenannte «Central-Ausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche» gegründet. Er war eine Organisation einflussreicher Einzelpersonen, der sich die Förderung der Inneren Mission im deutschsprachigen Raum verschrieb. Welche Ziele verfolgten evangelische Theologen und engagierte Protestenten mit ihrer Initiative?
Ulrich Lilie:
Aus Liebe und aus Glauben haben Johann Hinrich Wichern und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihre Kirche an ihren vornehmsten Auftrag erinnert: zuerst und vor allem für die schwächsten Glieder der Gesellschaft einzutreten. Die Innere Mission, deren Programm Wichern im September 1848 in Wittenberg darlegte, zielte auf Leib und Seele, auf soziale Hilfe und christliche Ansprache. Mit zum Teil bis heute wegweisenden Konzepten haben die Pioniere der Diakonie Angebote für gerechte Teilhabe und bessere Chancen für benachteiligte Menschen geschaffen. Dabei haben sie sich innovativ modernen, gerade im Entstehen begriffenen Organisationsformen wie zum Beispiel Vereinen bedient, um schnell handlungsfähig und wirksam zu sein. Der Central-Ausschuss unterstützte die Gründung von regionalen Initiativen, brachte Pilotprojekte auf den Weg und organisierte wirtschaftliche und politische Unterstützung.

Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland haben sich seit dem 19. Jahrhundert grundlegend verändert. Auch gingen die Bedeutung und die Macht der Kirche deutlich zurück. Was hat die Diakonie von damals mit der Diakonie von heute noch gemeinsam?
Damals wie heute sind Kirche und Diakonie gefragt, wie sie auf einen Epochenbruch antworten wollen. Unsere Gesellschaft wird sozial ungleicher, älter, kulturell und religiös vielfältiger und digitaler.
Der Klimawandel sorgt zusätzlich für gesellschaftliche Spannungen.
Damals wie heute kommt es darauf an, den Wandel und die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht zu gestalten. Damals wie heute können nicht alle Menschen mit dem Wandel Schritt halten.
Niemand soll zurückbleiben, das bleibt der Anspruch der Diakonie.
Diakonische Träger und Einrichtungen können auch nach 175 Jahren wichtige professionelle Impulse dafür setzen, dass die unterschiedlichen Menschen mit ihren vielfältigen Lebensentwürfen in den unterschiedlichen Regionen miteinander und füreinander Verantwortung für die Gestaltung einer sozial gerechten Gesellschaft übernehmen.

Wie würden Sie im Zeitraffer den Wandel der Diakonie, ihrer Aufgaben und ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft in den vergangenen 175 Jahren beschreiben? Was sind die wichtigsten Wegmarken?
Es gelang der Diakonie in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens, von einer Initiative einiger Engagierter zu einem unverzichtbaren Teil der stationären sozialen Versorgung in Deutschland zu werden. In der Weimarer Republik wurde sie eine tragende Säule des Sozialstaats. In den Kirchengemeinden, in Städten und Dörfern hatte die Diakonie durch ihre Gemeindeschwestern, Frauenhilfe und viele andere Kreise eine breite Unterstützungsbasis.
Die NS-Herrschaft, die anfangs von vielen auch in den eigenen Reihen begrüßt wurde, sich dann aber auch gegen Kirche und Diakonie und vor allem gegen ihre Schutzbefohlenen richtete, bildete einen gravierenden Einschnitt in diese Entwicklung. Gerade in dieser Zeit hat die Diakonie schwere Schuld auf sich geladen, wenn wir an die T4-Euthanasiemorde oder die willfährige Auslieferung jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner an die Tötungsmaschinerie der Nazis denken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Diakonie in Westdeutschland an ihre starke Stellung im Kreis der anderen Wohlfahrtsverbände anknüpfen. Mit dem Ausbau des Sozialsystems haben wir einen enormen Zuwachs an diakonischen Einrichtungen und Mitarbeitenden erlebt; begleitet wurde das von einer umfassenden Professionalisierung unserer Arbeit. In der DDR hatte die Diakonie hingegen mit vielen staatlichen Restriktionen zu kämpfen; dafür gelang es ihr, die Verbindung zur Basis in den Kirchengemeinden zu stärken.

Und heute?
Heute steht die Diakonie für Beteiligung und Befähigung von allen Menschen unabhängig von ihrem Vornamen, Geldbeutel oder Geschlecht. Mit ihren 630.000 hauptamtlichen Mitarbeitenden und den rund 700.000 ehrenamtlich Engagierten ist sie nach wie vor ein überaus wirksames Netzwerk für Zusammenhalt, Beteiligung und Inklusion und für eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft für alle.

Aus einer Bewegung einzelner engagierter Theologen und protestantischer Laien sind in Deutschland Tausende professionelle Sozialunternehmen entstanden. Mit welchem Blick würden Gründerväter der Diakonie wie etwa der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern (1808 bis 1881) oder der westfälische Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh (1831 bis 1910) auf das schauen, was aus ihrer Initiative geworden ist? Was würde ihnen gefallen, was würden sie vermissen?
Beide würden sich sicherlich darüber freuen, dass ihre Saat aufgegangen und die Diakonie gewachsen ist. Sie würden sich über den beharrlichen Einsatz für Menschen am Rande der Gesellschaft freuen, darüber dass die Diakonie nach wie vor den Menschen und der Gesellschaft dient. Auch dass das diakonische Denken und Handeln in der evangelischen Kirche fest verwurzelt ist, würden sie als Erreichen eines ihrer Ziele ansehen. Daneben hatte die Innere Mission allerdings auch klare volksmissionarische Ziele; der starke Rückgang der Verbundenheit vieler Menschen mit der Kirche und dem christlichen Glauben würde Wichern zweifellos schmerzen.

Heute entscheiden sich Menschen weniger aus christlichen Gründen, sondern eher aus einer pragmatischen Haltung heraus für kirchliche Institutionen als Arbeitgeber. Ist dies eine gute Grundlage, um die Existenz der Diakonie für weitere Jahrzehnte zu sichern?
Aus meinen vielen Begegnungen mit beeindruckenden Mitarbeitenden vor Ort in diakonischen Diensten und Einrichtungen weiß ich, dass sich heute ein pragmatisch-professionelles Selbstbewusstsein mit Leidenschaft für den eigenen Beruf und für die Verbesserung der Lebensperspektiven von Menschen mit Unterstützungsbedarf verbindet. Diese hoch engagierten Mitarbeitenden sind ein Schatz für unser Gemeinwesen! Ihnen gute Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu bieten, ist Aufgabe der Diakonie und der Politik zugleich.

Die Diakonie hat in ihrer langen Geschichte auch schwere Fehler gemacht. Sie hat sich in der NS-Zeit angepasst bis dienerisch verhalten; sie hat bis in die 1970er Jahre hinein vielen Kindern in Heimen, Gewalt und Missbrauch angetan. Wie erklären Sie das Versagen und das so gar nicht christliche Verhalten in der Diakonie?
Wir sind nicht die besseren Menschen, wir sind evangelisch.
Der deutsche Protestantismus ist gerade in der Weimarer Republik und in der NS-Diktatur einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, der Staatsnähe, des Nationalismus und des Totalitarismus erlegen. Dieses unheilvolle Gemisch hat den Boden bereitet für die schuldhafte Verstrickung der Diakonie in die menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten. Und leider gab es auch eine durch Personen repräsentierte Fortsetzung autoritärer und menschenverachtender Handlungsmuster in der Nachkriegszeit, wenn wir an die eklatanten Verfehlungen in der Heimerziehung denken.
Wir haben in diesem Jubiläumsjahr versucht, im Rahmen einer historischen Fachtagung auszuloten, wie sich die Diakonie in ihrer Geschichte zwischen freiheitlichen Impulsen einerseits und autoritären Strukturen anderseits bewegte. Gefährlich wurde es immer dann, wenn das Wohl der Einzelnen zurückstehen sollte hinter vermeintlich größeren, allgemeinen Werten wie «Volksgesundheit» oder gesellschaftliche Ordnung. Die Diakonie hat nicht immer die notwendige freiheitliche, menschenrechtliche Orientierung gehabt, um autoritärem Ungeist den nötigen Widerstand mutig entgegenzusetzen.

Was unternimmt die Diakonie, damit sie in Zukunft ihren hohen ethischen Ansprüchen gerecht wird und solche Fehlentwicklungen verhindert werden?
In den diakonischen Ausbildungsstätten und bei Trägern und Einrichtungen wird heute an die Gräueltaten der Nazis, an die Verstrickung der Diakonie und an das Versagen angesichts der Verfolgung und der Not von Mitmenschen erinnert. Mir ist wichtig, dass wir die Erinnerung gemeinsam mit von Ausgrenzung bedrohten Menschen wachhalten. Die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft pflegen wir in einem guten, engen Verhältnis mit der jüdischen Wohlfahrtpflege. Angesichts der Gefährdung unserer Demokratie und erstarkendem Rechtspopulismus und Antisemitismus haben wir mittlerweile den Arbeitsbereich «Engagement, Demokratie und Zivilgesellschaft» erheblich ausgebaut und übernehmen Verantwortung für unser demokratisches Gemeinwesen. Und ganz grundlegend: Die sozialethische und konstruktiv-kritische Reflexion unserer Arbeit gehört mittlerweile - Gott sei Dank - zu unserem professionellen Selbstverständnis, wie auch eine wertschätzende Fehlerkultur und hohe Transparenz- und Compliancestandards.

Autor:

Katja Schmidtke

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