Mehr Selbstbestimmung notwendig
"Mir schreiben täglich Menschen, die Angst haben"
Vier weiß gestrichene Rollstühle vor dem Altar. Namenlos, ohne Foto. Raul Krauthausen wird noch immer wütend, wenn er an die Gedenkfeier für die vier getöteten Menschen in der Potsdamer Nikolaikirche denkt.
Von Nina Schmedding
Die Symbolik sei typisch dafür, dass "Behinderte oft nicht als Individuen, sondern als Gruppe wahrgenommen werden", betont der 40-jährige Inklusionsaktivist. Dies zeige die Perspektive der Institution und auch die der Mehrheitsgesellschaft, aber nicht die der Betroffenen – für ihn der Kern des Problems.
Zwei Männer und zwei Frauen wurden Ende April im Potsdamer Behindertenwohnheim Oberlinhaus getötet – von einer 51-jährigen Pflegerin, die danach in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wurde. Das öffentliche Entsetzen über die Tat sei sehr schnell abgeebbt, findet Krauthausen. "Einen richtigen Aufschrei gab es eigentlich nur in unserer Community. Mir schreiben täglich Menschen, die Angst haben", sagt der Kommunikationswirt, der die Glasknochenkrankheit hat und sich seit Jahrzehnten für die Rechte von behinderten Menschen engagiert.
Ob ihn die Tat überrascht habe? "Nein. Behindertenwohnheime haben Strukturen, die Gewalt und Missbrauch begünstigen", antwortet der Aktivist. Als weiteres Beispiel dafür nennt er eine Einrichtung der Diakonie in Bad Oeynhausen, wo vermutlich 145 Mitarbeiter jahrelang Behinderte misshandelt haben. Zu große Gruppen, zu wenig Mitbestimmung von Behinderten, mangelnde Aufklärung über Rechte, zu wenig Transparenz: Krauthausen fordert ein konzeptionelles Umdenken bei der Betreuung von behinderten Menschen. Das heißt für ihn vor allem, dass sie nicht ihr ganzes Leben von der Kindheit bis ins Alter in solchen "totalen Institutionen" verbringen sollten, wie er sie nennt. Er verwendet damit einen Begriff aus der Soziologie, der sich meist auf Asylunterkünfte oder Gefängnisse bezieht, wenn aus diesen Einrichtungen keine Informationen nach außen oder nach innen dringen.
Auch Menschen mit Behinderung verbringen ihr Leben manchmal in einer abgeschlossenen Welt. Sie durchlaufen oft viele Stationen auf nur einem Gelände: Sie gehen dort in die Schule, arbeiten und wohnen dort, verbringen dort ihre Freizeit. "Oft sind diese Einrichtungen dann auch noch am Stadtrand, wo der letzte Bus um 19 Uhr fährt", sagt Krauthausen. "Also aus den Augen und aus dem Sinn der Mehrheitsgesellschaft."
Ein Wohnzimmer für acht Erwachsene
Der Leiter einer Caritas-Wohneinrichtung für Behinderte am Berliner Michaelkirchplatz, Andreas Wohsmann, kann die Kritik nachvollziehen. Teilweise sei die Behindertenhilfe noch auf dem Stand der 1970er-Jahre. "Die persönlichen Möglichkeiten jedes Einzelnen müssen viel mehr im Mittelpunkt stehen", fordert auch er. Die Gruppen seien oft einfach zu groß – bis zu acht Erwachsene wohnen etwa in seiner Einrichtung auf einem Flur, teilen sich eine Küche und ein Wohnzimmer. In der angegliederten Jugendeinrichtung gibt es vereinzelt noch Doppelzimmer. Behinderte Menschen, die seit der Kindheit in großen Wohngruppen leben, hätten dadurch nicht gelernt, ihre persönlichen Wünsche zu äußern, erklärt der 62-jährige Sozialpädagoge – "einfach, weil sie es gewohnt sind, immer Rücksicht auf andere zu nehmen". Erwachsene seien dann zum Beispiel nicht in der Lage zu sagen, in welcher Farbe sie ihr Zimmer gestrichen haben wollen, oder sich Hilfe zu holen, wenn es nötig ist.
Für Krauthausen liegt die Lösung vor allem darin, dass Menschen mit Behinderung soweit möglich selbstständig in den eigenen vier Wänden leben sollten – in einer selbst gewählten Vierer-Wohngemeinschaft mitten in der Stadt etwa, wie andere auch. Als Vorbild nennt er Schweden, wo es viel einfacher sei, eine entsprechende Pflegeassistenz finanziert zu bekommen. Anders als in großen Behinderteneinrichtungen könne man sich dann auch aussuchen, wer pflege – ob Mann oder Frau zum Beispiel. Und man kann seine Zimmertür abschließen. Dies sei in großen Einrichtungen nicht möglich, betont Krauthausen.
(kna)
Autor:Online-Redaktion |
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