Der Missbrauch Jesu Leiden für antijüdische Ressentiments
Vom Glück der zweiten Wahl
In diesem Jahr gibt es eine Kampagne: „#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst“. Dort werden die Gemeinsamkeiten jüdischer und christlicher Feste aufgezeigt. So auch die von Pessach und Ostern. Dass die Osterzeit einmal eine Zeit sein wird, die im friedlichen Sinne auf die besondere Verbindung von Christen und Juden hinweist, hätte sich die Judenheit der letzten Jahrtausende nie träumen lassen.
Von Teja Begrich
Schließlich war die Passionszeit, mit Karfreitag als ihrem Höhepunkt, für die christlichen Gemeinden immer wieder ein willkommener Anlass, die Juden als Gottesmörder in Erinnerung zu rufen. Seitdem etwa um 160 n. Chr. Bischof Melito von Sardes dieses Vorurteil erfunden und in die Welt gebracht hat, wurde es eifrig Karfreitag für Karfreitag weitergegeben: „Die Juden haben erst unseren Herrn Jesus Christus gekreuzigt und dafür gern die Schuld auf sich genommen, indem sie schrien: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! So dass sie sich eben nicht wundern müssen, wenn sie als Gottesmörder an keinem Ort der Erde gern gesehen werden.“ Ganz konsequent hat sich die christliche Welt dann auch über viele Jahrhunderte bemüht, die Juden aus ihren Territorien zu vertreiben.
Gegen langjährig gepflegte Vorurteile ist kein Kraut gewachsen, auch keine Bibellektüre. Dort hätte man unmissverständlich lesen können, dass es Römer waren, die Jesus ans Kreuz schlugen. Die Kreuzigung war eine römische und keine jüdische Strafe. Auch hatte der jüdische Gerichtshof zur Zeit Jesu nicht die Macht und Möglichkeit, ein Todesurteil zu fällen, geschweige denn, dies zu vollstrecken. Israels Eigenständigkeit war sehr eingeschränkt, die Römer waren die herrschende Besatzungsmacht, und die Gerichtsbarkeit lag in ihrer Hand. Aber nein, das macht nichts, die Juden waren es. Schließlich rief die Menge auch: „Kreuzige ihn“. Schon innerhalb der biblischen Passionsgeschichten schwankt es eifrig hin und her, wer hier rief. Einmal war es ein wilder Haufen, die Menge, ein anderes Mal das Volk, und ganz gewiss waren es nicht die gleichen, die beim Einzug Jesu in Jerusalem „Hosianna“ riefen. Für Differenzierungen aber war in der antijüdischen Auslegungsgeschichte des Christentums kein Platz.
Die Kirche machte sich so etwas zu eigen, von dem die Passionsgeschichte auch schrieb: Neid! Aus Neid wurde Jesus vor Pilatus gebracht: „Denn er erkannte, dass ihn die Hohenpriester aus Neid überantwortet hatten.“ (Markus 15,10). Neid ist das christliche Grundmotiv der Judenfeindschaft. Die Kirche hat es nicht ausgehalten und hält es selbst heute oft nur schwer aus, dass die erste Liebe Gottes die Juden sind. Wir Christen sind zweite Wahl. Das wollte die Kirche sofort ändern und setze sich an die erste Stelle. Substitutionstheologie wird das genannt. Ein schwieriges Wort für eine einfache Sache: Ent-erbung! Darum ging es der Kirche: Israel sollte enterbt und das Erbe auf die Kirche übertragen werden. So hat sich die Kirche an Israels und der Juden Stelle gesetzt.
Wie viel Kleinglaube ist jedoch nötig, um auf eine solche Theologie zu kommen? Warum sollte Gott, der Schöpfer der Welt, nur in der Lage sein, ein Volk zu lieben? Was für ein jämmerliches Gottesbild ist das? Glaubt die Kirche ernsthaft, dass Gott nur ein Volk lieben kann? Und darum Gottes Augapfel unter den Völkern (Sacharja 2,12), Israel, enterbt werden muss, weil es nur einen Erben geben kann? Diese gefährliche und zerstörende Theologie hat die Kirche lange und gerade an Karfreitag betrieben. Allmählich wandelt sich nun der Kleinglaube, und so sehen wir langsam: Pessach und Ostern sind näher, als wir denken. Und so bin ich auch mit der zweiten Wahl ganz zufrieden.
Der Autor ist Pfarrer in Mühlhausen und Beauftragter der EKM für den christlich-jüdischen Dialog.
Autor:Online-Redaktion |
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