Lesen gegen Einsamkeit
Warum Vorlesen nicht nur für die Jüngsten eine Wohltat ist
Der November ist da. Was läge bei Schmuddelwetter näher, als in einem guten Buch zu schmökern, am besten mit anderen gemeinsam? Das ist die Idee des bundesweiten Vorlesetags, der am 18. November erneut stattfindet.
Von Elisabeth Friedgen (kna)
Jeder Montag ist ein kleiner Festtag für Zita Stock. Sie freut sich schon beim Aufstehen auf den Nachmittag. Denn dann bekommt sie Besuch. Von Kathrin Bucher. Die hat immer ein Buch dabei. Dann sitzen die beiden Frauen zusammen in Stocks Zimmer in der dritten Etage des Mainzer Bilhildis-Altenheims. Kathrin Bucher liest vor. Zita Stock lauscht. Sie sprechen über des Gelesene, Parallelen zum echten Leben, über alles, was da an Assoziationen kommt.
Zita Stock ist 86 Jahre alt und lebt seit fast einem Jahr im Seniorenheim. Es wird viel geboten für die Bewohnerinnen und Bewohner, trotzdem gibt es einsame Stunden. Als bald nach ihrem Einzug eine Dame vom soziokulturellen Dienst des Hauses fragte, ob sie an einem Vorlesedienst interessiert sein, sagte Stock sofort zu. Denn das Lesen, früher eine selbstverständliche Fähigkeit, fehle ihr sehr, sagt sie. Die Augen wollen nicht mehr so recht. Alleine schafft sie kein Buch, nicht mal eine Kurzgeschichte.
Kathrin Bucher (64) ist erst seit Kurzem in Rente - und vermisst ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, den Umgang mit Literatur. Viele Jahre arbeitete sie beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels und betreute dort die Vorlesewettbewerbe von Schülern. "Bei dieser Arbeit habe ich mir von den Schülerinnen und Schülern auch gute Techniken des Vorlesens abgeschaut", sagt sie schmunzelnd. Dass sie diese Fähigkeiten eines Tages in einem Altenheim nutzen könnte, hätte sie damals nicht gedacht. Durch eine Zeitungsnotiz wurde sie auf das Projekt der "Mobilen Bücherei" der Mainzer Anna Seghers Bibliothek aufmerksam, die ehrenamtliche Vorleser für Senioren suchte. Die Idee war zunächst, Lesestoff zu Senioren zu bringen und wieder abzuholen. "Daraus entstand dann der Vorlesedienst", erklärt Ursula Nawrath von der Anna-Seghers-Bibliothek.
Ein Grund hierfür war, dass Corona den Alltag älterer Menschen häufig sehr einsam machte. Inzwischen seien einige Vorleser und Vorleserinnen regelmäßig in den Mainzer Seniorenheimen unterwegs. In der Bibliothek haben sie eine Liste mit Literatur erstellt, die auf Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Bucher nahm an einer Schulung der Stiftung Lesen teil - und wurde Stock als Vorleserin zugeteilt. Wie der Zufall es wollte, stellte sich heraus, dass die beiden sich von früher kannten: Bucher hatte als Kind im selben Stadtteil gewohnt und mit Stocks Tochter den Kommunionunterricht besucht. "Ich glaube, dass das eine Fügung war", sagt Stock lächelnd.
Inzwischen verbindet die beiden Frauen eine Freundschaft; oft schaut Bucher noch ein zweites und drittes Mal
pro Woche bei ihr vorbei, übernimmt auch mal kleine Besorgungen. Auf die Vorlesestunde freuen sich beide immer besonders. "Dieses Engagement ist für mich eine persönliche Bereicherung", sagt Bucher. Am liebsten hört Stock Heiligenlegenden; gerade lesen die beiden eine Biografie von Mutter Teresa. "Kathrin hat eine so angenehme Stimme, ich höre ihr wirklich gern zu", sagt die Seniorin.
Ähnliche Erfahrungen macht Marianne Langer, die ebenfalls kürzlich Rentnerin wurde und nach einem sinnvollen Hobby für die neu gewonnene Freizeit suchte. Über das Projekt der Anna-Seghers-Bibliothek besucht sie inzwischen monatlich eine ganze Seniorengruppe im Mainzer Altenheim Jockel-Fuchs-Haus zur Vorlesestunde. "Anfangs war da noch eine Distanz zwischen den Bewohnern und mir", erinnert sich
Langer, "aber ich bin immer mit einem Lächeln in die Gruppe gegangen - jetzt kommt das zurück." Die Senioren wissen, dass Langer ein durchdachtes Konzept mitbringt. So hatte sie im September zum rheinlandpfälzischen Schulbeginn nicht nur Geschichten im Gepäck, die die Schule zum Thema hatten, sondern auch eine alte
Fibel und eine alte Schiefertafel. Da wurden Erinnerungen wach und es entspann sich ein lebhaftes Gespräch über die eigene Schulzeit.
Besonders die dementen Teilnehmer profitierten von dem Angebot, sagt Langer. Denn Menschen mit Demenz erinnerten Dinge aus Jugend und Kindheit oft noch sehr klar. Gespräche zur Vergangenheit könnten darum für sie Teilnahme an der Gemeinschaft bedeuten. "Das Vorlesen bereitet den Menschen wirkliche Freude", sagt Langer, und das wiederum mache sie selbst zufrieden. So enden ihre Vorlesestunden nun oft mit Applaus - und die Bewohnerinnen und Bewohner zehren noch eine ganze Weile von dem Nachmittag.
Vorlesetag
Am 18. November findet zum 18. Mal der bundesweite Vorlesetag statt, der von der Wochenzeitung "Die
Zeit", der Stiftung Lesen und der Deutsche Bahn Stiftung gemeinsam veranstaltet wird. In diesem Jahr lautet das Motto "Gemeinsam einzigartig". Das kann sowohl als Verbindung zwischen den Generationen als auch zwischen den Kulturen verstanden werden. "Es geht uns darum, die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft
als Bereicherung und verbindendes Element zu betonen", sagt Jule Würzebesser, die vonseiten der Zeit den Vorlesetag mit organisiert. "Menschen sollen sich selbst und andere in ihrer Einzigartigkeit feiern - egal ob Groß oder Klein, Jung oder Alt, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, sozialer Herkunft, sexueller Orientierung, mit Behinderung oder ohne", so Würzebesser.
Autor:Katja Schmidtke |
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