Zwischenruf
Zeitgemäße Musik ist lebensnotwendig
Mit unserem Lied- und Musikgut im Gottesdienst tun wir weiterhin so, als lebten wir im vorigen Jahrhundert.
Von Johannes Toaspern
Bei einer Konfifreizeit haben jüngst die 13- und 14-Jährigen am Lagerfeuer je ein Musikstück ihrer Wahl vorgestellt. Dank Streaming-Diensten und Taschenverstärkern geht das ja problemlos. Da wurde sehr deutlich, dass jede(r) Jugendliche einen höchst eigenen Geschmack hat – aber auch jede(r) genau wusste, was ihr und ihm musikalisch entsprach.
Als Stadtjugendpfarrer wurde ich immer wieder als Erstes gefragt, wenn mich Jugendliche kennenlernen wollten: »Welche Musik hörst Du?«
Will sagen: Die Musik halte ich, obwohl Pfarrer, (heute) für den Schlüsselzugang zu den Menschen, auch in der Kirche. Als ich in meiner eigenen Kirche einmal gesehen habe, wie Menschen mit Tränen und glücklich aus einem säkularen Popularmusik-Konzert gekommen sind, ist mir aufgegangen, welche Kraft wir uns ständig entgehen lassen, solange wir zum Beispiel die Orgel als Standard für unsere Gottesdienste benutzen, ein Nischeninstrument, das ausschließlich mit einer Gegenwelt verbunden wird, nämlich der Kirche. Und die hat, so die praktische Überzeugung der meisten Menschen, ja bekanntlich mit dem Leben nicht mehr viel zu tun.
Dabei sind selbst die heute Alten mit den Beatles aufgewachsen, mit den Stones, mit Genesis und Pink Floyd und müssen sich heute im Normalgottesdienst immer noch mit Gesangbuchtexten der letzten fünf Jahrhunderte amüsieren. Selbst in meiner Konfizeit (1968–1970) haben wir uns nicht mehr um Gesangbuchlieder geschert.
Es ist auch ein geistliches Armutszeugnis, wenn eine Landeskirche wie unsere in den letzten 25 Jahren keinen Anhang mit neuen Liedern zum EG herausgebracht hat, und wenn es eine Übernahme der wirklich guten Anhänge der umgebenden Landeskirchen wäre!
Wir treiben mit einer Kirchenmusik alten Stils die Menschen regelrecht aus der Kirche, beobachten andererseits aber überall, wo neue Glaubenspflänzchen wachsen, dass dies mit einer zeitgemäßen Musik einhergeht – für viele ungewohnt, doch für eine Kirche, wenn sie sich tatsächlich erneuern will, lebensnotwendig. Leider ist das vorrangig bei den Freikirchen zu beobachten.
Als Kirche haben wir zuerst Glauben zu wecken und erst nachrangig (Hoch-)Kultur zu erhalten. Ein missionarisch orientierter Mitarbeiter hat gesagt: »Wenn ich wüsste, dass es Glauben weckt, würde ich auch die ›Wildecker Herzbuben‹ in meinen Gottesdienst holen«, ein Gedanke, der Kirchenmusikern und Pfarrern unserer kirchlichen Ausbildungstradition in der Regel die Fußnägel aufrollt.
Es muss mit der hergebrachten Kirchenmusik in leeren Kirchen genau wie mit den Kirchengebäuden gehen: Wo sie nicht mehr für die Erneuerung des Glaubens eingesetzt werden kann, weil sie niemand mehr will und braucht, soll sie schmerzfrei aufgegeben werden. Erhalten kann sie die Zivilgesellschaft, sofern sie will. Nehmen wir uns als Kirche mit dem Auftrag Glauben zu wecken und in dieser Konsequenz nicht ernst, verkommen wir zu einer beliebigen Kultureinrichtung, deren Symbol sich eine säkulare Staatskanzlei problemlos an die Wand nageln kann.
Deshalb unterstütze ich nachdrücklich die Umstellung und Erweiterung der kirchenmusikalischen Ausbildung um den Bereich Popularmusik, den jeder Kirchenmusiker zwingend durchlaufen und später auch praktizieren muss – ebenso wie ich meine, dass ein Pfarrer nicht zum Dienst zugelassen werden dürfte, wenn er nicht Gitarre, Schlagzeug oder ein anderes für die Popularmusik relevantes Instrument spielt.
Dass Popularmusik im besten Sinne gelingt, erlebe ich derzeit zutiefst beglückt in unserer ostdeutsch-glaubensentfremdeten Stadt. Zur Konfirmation konnte in diesem Jahr der traditionelle Gemeindechor nicht mehr singen, weil er zu klein geworden war. Aber die Kantorin führte bereits das vierte Musical mit Kindern aus dem Kinder- und Jugendtreff im Lutherhaus auf, einem sozialen Brennpunkt der Stadt. Diese »populären« Musicals, gut und professionell einstudiert, bereichern und erweitern unser Gemeindeleben und teilen sicher den teilnehmenden, kirchlich völlig fern stehenden Kindern, Jugendlichen und deren Eltern etwas vom christlichen Glauben mit. In erster Linie aber kommen die Kinder, weil ihnen die Musik Spaß macht. Ihre Musik. Neue Musik. Fröhliche Musik.
Anders geht es nicht mehr, wollen wir nicht im vollen Ornat, unter vollem Geläut und unter Einsatz von vollem Haupt-, Brust- und Schwellwerk unsere Kirche zu ihrem Grab geleiten.
Der Autor ist Pfarrer in Bitterfeld.
Autor:Online-Redaktion |
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