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Rezension
Zeitgeschichte mit Ausblick

Mehr als eine Festschrift: Das Buch zum Jubiläum arbeitet die Vergangenheit auf, analysiert die Gegenwart und entwirft Ideen für die Zukunft der evangelischen Publizistik. | Foto: Cover: Wartburg Verlag
  • Mehr als eine Festschrift: Das Buch zum Jubiläum arbeitet die Vergangenheit auf, analysiert die Gegenwart und entwirft Ideen für die Zukunft der evangelischen Publizistik.
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Pünktlich zur Buchmesse in Leipzig ist "Evangelische Publizistik – wohin?" im Wartburg Verlag erschienen. Im zweiten Teil der Textsammlung wird die Geschichte der 100-jährigen "Glaube + Heimat" aufgearbeitet, von 1924 bis heute. Eine Rezension.

Von Von Doris Weilandt

Allen Schwierigkeiten zum Trotz, jüngst erst die gestiegenen Papierpreise, existiert sie immer noch: die Mitteldeutsche Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ (G+H), erstmals erschienen am 15. April 1924. Als „christliches Familienblatt“ sollte sie jedes Kirchenmitglied unabhängig von Alter und Stellung erreichen und so den Zusammenhalt innerhalb der kurz vorher gegründeten Landeskirche stärken. In dem Kapitel „Evangelische Publizistik konkret“ wird die Geschichte von G+H in drei wissenschaftlichen Beiträgen vorgestellt, die sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus ihrem Forschungsgegenstand nähern. Erstmalig aufgearbeitet ist die Rolle der Zeitung im Nationalsozialismus.

Mit dem ersten Jahrzehnt ihrer Existenz beschäftigt sich die Theologin und Politikerin Christine Lieberknecht, deren Familiengeschichte enge Bezüge zur Kirchenzeitung hat. Als ihre Großeltern am 15. April 1924 in St. Jakob bei Leutenberg heirateten, lag die neue G+H im Pfarrhaushalt auf dem Tisch. So alt wie diese Ehe ist auch das Abonnement, das von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Die erste Ausgabe erschien in einer heute unvorstellbaren Auflage von 100 000 Exemplaren und war ein Erfolg. Zur Gründungsgruppe gehörten Otto Senffleben, August Ludwig Gustav Schröer, Marie Begas und Kirchenrat Seidel (Themar).

Lieberknecht fasst wesentliche Inhalte aus der Gründungszeit zusammen: Heimatverbundenheit, missionarische Beiträge, die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls innerhalb der Landeskirche und kirchenmusikalische Traditionen wie das 400. Jubiläum des evangelischen Kirchengesangbuches. Besondere Würdigung finden die Einführung des Christentums durch Bonifatius und das 400. Jubiläum des Predigtamtes durch Luthers Weggefährten Antonius Musa. Die Autorin unterstreicht, dass der deutsche Nationalismus bereits in den 1920er-Jahren durch G+H unterstützt wurde.

Der Zeit im Nationalsozialismus widmet sich der Direktor der Stiftung Lutherhaus Eisenach, Joachim Birkenmeier. Die Kirchenzeitung spiegelt in expliziter Weise die rasante Entwicklung im Land. In der Weimarer Republik sahen führende Kirchenvertreter den „Untergang des Abendlandes“, die Trennung von Staat und Kirche als Irrweg. Der Ruf nach einem straff organisierten Gemeinwesen wurde immer lauter. Anstelle von Demokratie wurde nach autoritärer Führung verlangt. Nachdem die Deutschen Christen (DC) beim Landeskirchentag 1933 die Mehrheit errungen hatten, übernahmen sie auch die Redaktion von G+H.

Subtiler als in der übrigen Presse wurden, so Birkenmeier, die Leser an deutschchristliche Themen herangeführt. Die Betonung lag auf dem völkischen und arteigenen Charakter des Christentums mit größtmöglicher Distanz zum Judentum. Anfang 1938 setzte eine antisemitische Kampagne ein. Pamphlete wie „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ bildeten keine Ausnahme und mündeten im Beschluss der Kirchenleitungen zur „Gründung des Instituts zur Erforschung und Beseitigung jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes“.

Birkenmeier, der zu diesem Thema umfangreiche Forschungsergebnisse vorgelegt hat, beschreibt die Zusammenhänge zwischen der Redaktion und dem „Entjudungsinstitut“. Seine Analyse der Rolle von G+H geht über die Exegese der Texte hinaus. Fazit der NS-Zeit: Alle Anbiederungen an das nationalsozialistische System konnten nicht verhindern, dass Hitler mit der Kirche nichts am Hut hatte. Im Mai 1941 musste die Kirchenzeitung aus „kriegswirtschaftlichen Gründen“ den Betrieb einstellen.

Mit der DDR-Geschichte bis 1987 beschäftigt sich der Theologe Karl-Christoph Goldammer, der sich in seinem Dissertationsprojekt mit G+H im genannten Zeitraum befasst. Zunächst beschreibt er die Neugründung, die mit der Lizenzvergabe vom 13. Februar 1946 durch die SMAD und den Jenaer Akteuren um Max Keßler begann. Neben Andachten, Meldungen, Gedichten und Monatssprüchen bestimmten kirchliche Gegenwartsprobleme in der realsozialistischen Gesellschaft den Inhalt. In den 1960er-Jahren veränderten sich die Themen. Goldammer analysiert, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der kirchliche Wiederaufbau in den Fokus rückten. Akteuren der Bekennenden Kirche wie Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider oder Ernst Otto (ehemaliges Redaktionsmitglied bei G+H) gedachte die Redaktion in Beiträgen. Es ging zunehmend um Probleme zwischen Kirche und Staat wie die Unvereinbarkeit von Konfirmation und Jugendweihe, um neue Formen gottesdienstlicher Feiern wie Beatgottesdienste. Einmalig in der Geschichte der Kirchenzeitung war die internationale Ausrichtung mit Beiträgen über die Missionstätigkeit in Afrika und Asien, interkonfessionelle Freundschaften in Osteuropa und Bürgerrechtler wie Martin Luther King.

In den 1980er-Jahren setzte sich G+H mit neuen Gruppen für Frieden, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung kritisch auseinander, die sich unter dem Dach der Kirche gründeten. Die von vielen Lesern äußerst geschätzten Kommentare von Chefredakteur Gottfried Müller auf Seite 1, denen er den wahren Inhalt als Subtext mit gespitzter Feder einzuschreiben wusste, finden dagegen keine Erwähnung. Ein Beitrag von Bettina Röder, der keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, befasst sich inhaltlich nicht explizit mit G+H, sondern mit der Zensur aller kirchlichen Blätter 1988, dem „schlimmsten Zensurjahr“.

Ganz ausgespart bleibt im Kapitel zum 100. Geburtstag der Kirchenzeitung leider die immerhin über 30-jährige Geschichte im vereinten Deutschland. Auch Michael von Hintzenstern, der von 1977–2021 als Redakteur für das Blatt arbeitete und damit der dienstälteste Redakteur aller Zeiten ist, findet kaum Erwähnung.

Unter dem Titel „Pfadfinder in der digitalen Medienwelt“ gibt der amtierende Chefredakteur und Mitherausgeber der Publikation, Willi Wild, einen Ausblick in die Kirchenpresse in Mitteldeutschland. Wie in der gesamten Presselandschaft, sind auch bei G+H die Abonnements rückläufig. Eine Umstellung auf digitale Formate erfordere viel Fingerspitzengefühl, da bei den Lesern eine starke Blattbindung vorherrsche und die Zufriedenheit, wie eine Umfrage belegt, überdurchschnittlich hoch ist. G+H ist darüber hinaus die meistzitierte Kirchengebiets-presse. Wild kämpft für den Erhalt der Zeitung, die mit einer Digitalisierungsstrategie eine Perspektive bekommen soll. Sein leidenschaftliches Plädoyer bezieht seine Wirkung aus der schweren Vergangenheit für evangelische Publizistik. Das Buch sei auch mit Blick auf die Zeitgeschichte unbedingt empfohlen.

Autor:

Online-Redaktion

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