Blickwechsel
"Es wird immer schwerer ums Herz"
Harte Worte, Anschuldigungen und Vorwürfe, viel Leid und schwere Schicksalsschläge werden in diesen Tagen in der Christuskirche in Meran (Südtirol) auf Zettel notiert. Manchmal sind sie auch leer, oder aber mit Gebeten, mit viel Hoffnung und Vertrauen beschrieben. Die Gebete sind auf deutsch und italienisch, auf englisch und französisch geschrieben und stecken in der Klagemauer im Chorraum der neugotischen Kirche.
Von Mirjam Petermann
"Den Menschen wird es in diesen Tagen immer schwerer ums Herz", sagt Pfarrer Martin Krautwurst. In Begegnungen und Gesprächen spüre er, dass diese Zeit mit ihren Auflagen und Beschränkungen immer schwerer auf der Seele liegt und bedrückt. "Quarantäne und Lockdown, Krankheit, Verlustängste, Abschied, Einsamkeit und Trauer – irgendwo muss dieser Frust und die Angst hin", sagt Krautwurst. Klagen müsse erlaubt sein. Deshalb haben sie hier in Meran einen Raum geschaffen, in dem Sorgen und Bedenken artikuliert, aber auch abgegeben werden können.
Vorbild dafür sei die alte Klagemauer von Jerusalem. Solange der Tempel in der Heiligen Stadt bestand, hatte die Mauer keine herausgehobene religiöse Bedeutung. Sie stellte einen Teil der westlichen Umfassungsmauer des Tempelplateaus aus Herodianischer Zeit dar. Ungefähr ein Drittel der einstigen Tempelmauer wurde abgetragen, und ein Drittel befindet sich in der Tiefe im Boden. König Herodes konnte den Erweiterungsbau des Tempels zu seinen Lebzeiten nicht abschließen. Unter seinem Nachfolger Herodes Agrippa II wurden die Arbeiten erst kurz vor dem Ausbruch des Jüdischen Krieges (66 n. Chr.) beendet und drei Jahre später bereits zerstört. Heute wird die 48 Meter lange und 18 Meter hohe Mauer von den Juden „westliche Mauer“ oder einfach nur „Kotel“ genannt. Sie dient als religiöse Gebetsstätte und ist für viele Juden ein Zeichen für den Bund zwischen Gott und seinem Volk. Der Gebetsplatz der Männer dort ist von dem der Frauen strikt getrennt.
Anders in Meran. "Männer und Frauen, evangelische und katholische Christen nutzen die Gebetsmauer gleichermaßen", sagt Pfarrer Martin Krautwurst. "Es ist eine Mauer, die nicht trennt, sondern in mehrfacher Hinsicht verbindet." Täglich von 9 bis 19 Uhr ist die Kirche geöffnet, um Gebete niederzuschreiben und in die Mauer zu stecken. Und auch per Mail können die Gebete nach Meran geschickt werden. Etwa aus Thüringen kamen schon einige an, Martin Krautwurst war dort bis 2014 in Magdala als Pfarrer tätig. "Das Projekt wird außergewöhnlich gut angenommen", so Krautwurst. "Gott lädt uns ein, unsere Sorgen bei ihm abzuladen, und so Freiräume für Neues zu schaffen." Alle Gebete werden Sonntagmorgen in die Fürbitte mit aufgenommen. Auch daran kann jeder per Stream teilnehmen. In der Nacht zum Ostersonntag hofft die Meraner Gemeinde, die Mauer dann wieder abtragen zu können.
Gottesdienst, sonntags 10 Uhr:
twitch.tv/evgmeran
Autor:Mirjam Petermann |
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