Griechenland
Geschlossene Gesellschaft
EU-Außengrenze: Anna-Nicole Heinrich, Präses der EKD-Synode, ist mit Kirchenvertretern nach Griechenland gereist, um sich ein Bild von der Situation der Geflüchteten zu machen. Marlene Brey hat mit der Präses über ihre Eindrücke gesprochen.
Sie haben die vergangenen Tage unter anderem ein Lager für Geflüchtete auf der griechischen Insel Kos besucht. Was haben Sie dort gesehen und erlebt?
Anna-Nicole Heinrich: Auf Kos habe ich eine verstörende Gleichzeitigkeit erlebt. An den Stränden baden die Urlauber, und nur wenige Meter weiter sieht man die Spuren von Flucht: Reste von Schlauchbooten liegen an den Stränden, daneben Rettungswesten, Kleidung von Kindern. Fährt man weiter ins Innere der Insel, wohin sich nur wenige Touristen verirren, sieht man ein riesiges Lager für Geflüchtete, das «Closed Control Access Center».
Der Name sagt es ja bereits: Das Lager ist eine geschlossene Unterbringung, und die Abschottung dieser Menschen ist auch deutlich zu sehen. Es ist komplett umzäunt, inklusive Stacheldraht. Davor wehen die griechische und die europäische Fahne.
Hat Sie dieser Anblick der EU-Außengrenze überrascht?
Ich bin nicht mit vorgefertigten Bildern von der EU-Außengrenze nach Griechenland gereist. Für mich war Europa bisher geprägt von Offenheit. Europas Grenze kann die offene Küste sein. Wir kennen aber auch andere Berichte über die EU-Außengrenze, insbesondere dann, wenn dort der Ausnahmezustand herrscht. Den gibt es auf Kos derzeit nicht. Der Tourismus dort läuft offensichtlich gut. Aber vom Anblick dieses Lagers war ich doch überrascht, davon, wie massiv es ist, und auch davon, wie die Menschen darin – inmitten dieser Urlaubsinsel – unsichtbar gemacht werden.
Die griechischen Lager gelten als Pilotprojekt. Im Zuge der EU-Asylreform entstehen andernorts baugleich ähnliche Lager. Nach dem, was Sie dort gesehen haben, wie geht es den Menschen in diesen Lagern?
Auf Kos war es über 30 Grad heiß, ein Feuer hat auf der Insel gewütet. Im Lager gibt es kaum Orte, wo sich Menschen vor der Sonne schützen können. Sie drängen sich in die schmalen Schattenstreifen von Wohncontainern. Wir haben auch gehört, dass die Nahrung nicht den Bedarf deckt, dass es bei der medizinischen und psychologischen Versorgung hakt, weil Ärzte fehlen. Und über all dem schwebt eine große Ungewissheit. Den Betroffenen ist oft nicht klar, wie die Prozesse ablaufen, weil es an Informationen und Übersetzern mangelt.
Wurde Ihnen der freie Zugang zu Informationen gewährt?
In den Gesprächen mit unterschiedlichen Akteuren im Lager haben wir ganz unterschiedliche Informationen erhalten. Das fing an bei der Aufnahmekapazität und ging bis zu spezifischen Rechten, die Betroffene dort haben sollen. Da kann man sich an manchen Stellen schon fragen, ob die Freiheiten oder Beschränkungen am Ende nicht letztlich von der Gunst der Verantwortlichen abhängen.
Was braucht es aus Ihrer Sicht in diesen Zentren?
Wenn die EU für mehr als 35 Millionen Euro ein Lager errichtet, dann muss die EU auch die Verantwortung dafür tragen, dass Menschen dort unter Bedingungen leben, die ein Mindestmaß an Anständigkeit haben. Und wenn diese Lager Pilotprojekte für weitere Lager dieser Art sind, dann müssen es Lernorte sein. Dann braucht es ein Monitoring. Werden Missstände festgestellt, müssen sie behoben werden.
Was bedeuten solche Lager für das Zusammenleben von Europäern und Neuankömmlingen, also für die Integration?
Die Lager sind für die Erstaufnahme und die Registrierung der Ankommenden gedacht. Das sind keine Orte, an denen sie ewig bleiben sollen. Aber in der Realität haben wir erfahren, dass es nicht immer so klappt, sondern dass Menschen dort teilweise mehrere Wochen oder Monate bleiben. Registrierung und Integration sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.
Klar ist, dass Integration während dieser ersten Zeit also nicht einmal beginnen kann. Bildung, die neue Sprache lernen, sich austauschen – all das hat in den Lagern keinen Platz. Ich glaube, und das haben wir auch von unterschiedlichen Akteuren gehört, dass dezentrale Lösungen die menschenfreundlicheren Bedingungen ermöglichen. Das ist die Strategie, die man forcieren sollte.
Sie haben erfahren, dass die Menschen nach einem positiven Asylbescheid das Lager nach 30 Tagen verlassen müssen. Sie warten dann aber noch auf ihre Papiere, ohne die sie keine Aussicht auf legale Arbeit oder eine Wohnung haben. Ist diese Lücke im System den Werten der EU angemessen?
Nein, dass Menschen obdachlos werden, weil es so lange Wartezeiten gibt, ist der EU nicht würdig. Das, finde ich, ist die größte Absurdität, dass unsere Regelungen diese Menschen zwingen, an einem Ort zu warten, an dem sie nicht bleiben wollen, und dass man in dieser Situation nicht Fürsorge für sie übernimmt oder den Prozess anders gestaltet.
Wie kann es sein, dass es so viel Obdachlosigkeit in Europa gibt? Man schaue sich nur einmal den riesigen Leerstand von Gebäuden in Athen an. Wie passt das zusammen?
Seit 2015 hat sich die Stimmung in Europa gegenüber Flüchtlingen und Migranten sehr verändert. Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen?
Es ist schon erschreckend, wie schnell man Leid verdrängen kann, obwohl man es direkt vor der Nase hat. Wie schnell man manches als Normalität hinnimmt und auch wie schnell Menschen nur im Hinblick auf Nützlichkeiten gesehen werden. Das wurde auch bei manchen Gesprächen auf Kos klar. Nicht wenige Schutzsuchende arbeiten dort schwarz im Tourismus. Solange die Ankommenden nützlich sind, sind sie willkommen. Zu sehen, dass es passiert, dass Menschen nur noch als Objekte gesehen werden, und nicht mehr ihre je eigenen Bedürfnisse, erschreckt.
Bei der letzten Europawahl sind viele EU-Staaten weiter nach rechts gerückt. Die Debatte um Migration spielt dabei eine wesentliche Rolle. Haben Sie einen Appell an Wähler?
Lasst euch keine Angst machen. Lasst euch keine Angst vor Zuwanderung machen.
Weil Europa Schleuser bekämpft, geraten offenbar auch Helfer unter Verdacht. Was sagen Sie dazu?
Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, die Schutzsuchenden weiterhin helfen möchten: Anwältinnen, Mitarbeiter in Umsonstläden, Psychologen. Viele von ihnen werden angefeindet, manche fürchten sogar rechtliche Konsequenzen. Wer versucht, die Situation zu verbessern, sollte nicht kriminalisiert werden. Wir brauchen diese Menschen.
Welche Hilfe können die Kirchen leisten?
Als Christinnen und Christen ist es unsere Aufgabe, Menschlichkeit und das Wissen darum, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, immer wieder an erste Stelle zu setzen und davon auch nicht abzurücken. Gleichzeitig sollten wir den Blick vor der Realität nicht verschließen. Das ist die Aufgabe als Christ, als Christin, geleitet von den Idealen, die wir aus unserem Glauben haben, zu schauen: Wo ist die kleine Schraube, an der ich drehen kann, und wo ist vielleicht auch die Idee, die ich weitertragen kann, damit der große Hebel umgelegt werden kann?
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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