Blickwechsel
Ukraine: Kämpfer an der "Heimatfront"
Vor dem Kulturzentrum von Mikolajew steht ein zerschossener Krankentransporter. Die linke vordere Front wurde getroffen, die Trage für Patienten liegt verbogen im hinteren Teil der Ambulanz. «Die Russen haben auf die Ambulanz gezielt», sagt Viktor Kozohlodyuk von der Selbstverteidigungsorganisation für das Volk in Mikolajew.
von Jan Dirk Herbermann
«Zum Glück hat der Fahrer überlebt, jetzt müssen wir den Wagen reparieren», sagt Viktor und zieht eine weiße Plane über das Wrack. Sobald die Reparatur abgeschlossen ist, wird die Selbstverteidigungsorganisation die Ambulanz zurück in den Osten bringen, wo heftige Gefechte zwischen der ukrainischen und der russischen Armee toben. «Auch wir in Mikolajew kämpfen gegen den Aggressor», sagt der Endsechziger Viktor mit entschlossenem Gesichtsausdruck: «Wir sind die Heimatfront.» Überall in der Ukraine engagieren sich Selbstverteidigungsorganisationen wie die von Mikolajew, einer Stadt mit 30 000 Einwohnern im relativ sicheren Westen des angegriffenen Landes. Die Komitees unterstützen Familien der Gefallenen aus ihren Orten, sammeln Spenden und humanitäre Hilfsgüter für die Soldaten und transportieren sie zu den Gefechtszonen.
Ohne die Tausenden Freiwilligen wäre die Lage für die Ukraine mehr als zwei Jahre nach dem Großangriff der Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin wohl noch brenzliger, als sie sich ohnehin darstellt. Die Selbstverteidiger können sich auch auf Spenden aus Deutschland verlassen. So sammelt der Verein «nichtredenmachen.de» aus dem rheinland-pfälzischen Bodenheim für die Ukraine: Die Bodenheimer haben bislang mehr als 1000 Paletten mit Gütern bereitgestellt.
Viktor steigt die breiten Treppen hoch, die zum rosagetünchten Kulturpalast führen. Vor einigen Fenstern türmen sich Sandsäcke auf. «Früher erlebten wir hier unbeschwert das kulturelle Leben, diese Zeiten sind vorbei», sagt der pensionierte Geschichtslehrer. Im Erdgeschoss stapeln sich Waren für die Front: Medikamente, Fleisch- und Obstkonserven, Nudeln, Kaffee, Tee, Zahnbürsten, Kerzen, Streichhölzer, Generatoren, Reifen. Im Obergeschoss fertigen Helferinnen Tarnnetze für Soldaten an. Sie zerschneiden alte Hosen, Hemden, Jacken und Tücher, dann flechten sie in Handarbeit aus den Stoffresten die Überzüge. «Jeden Donnerstag schicken wir einen Konvoi mit Material für die Kämpfer aus unserer Stadt», sagt Ivan Andrijschyk, ein Lokalpolitiker. «Der Konvoi fährt die Frontlinien ab und verteilt die Güter an die Jungs aus Mikolajew.»
Einer von ihnen ist Yurij Melnyk. In der Kriegsregion fährt der 42-Jährige Truppentransporter und hat schon einige gefährliche Situationen überlebt. Yurij kann noch eine Woche im Heimaturlaub neue Kräfte tanken, dann muss er wieder zurück. «Drohnen und Gleitbomben der Russen plagen uns besonders», sagt er und hält die Hand seiner Ehefrau.
Plötzlich ertönt Fliegeralarm. Minutenlang. Das Gespräch verstummt. Das Ehepaar bleibt sitzen. Auch die anderen Menschen auf dem Platz lassen sich von der Warnung nicht beeindrucken. Kein Mensch sucht einen Schutzraum auf. Der Krieg gehört für die Menschen in Mikolajew zum Alltag.
Auch für die Witwe Olga, ihre zwei Kinder und ihre Eltern. Sie leben in einem Häuschen am Stadtrand. Olgas Mann, ein einfacher Soldat im Alter von 33 Jahren, galt ab Anfang Oktober 2022 als vermisst. Nach 40 Tagen entdeckten die Ukrainer seine Leiche in Frontnähe. Kopfschuss. «Als sie ihn fanden, war er komplett schwarz», erzählt Olga und wischt sich die Tränen von den Wangen. Immerhin konnten seine Kameraden die sterblichen Überreste bergen und nach Mikolajew überführen.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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