Blickwechsel
Zu Besuch in Russland
Nein, unsere dreijährige Tochter haben wir doch nicht in Russland taufen lassen. Mit unseren drei Kindern waren wir in den Sommerferien bei meiner Schwiegermutter in einer Industriestadt südlich von Moskau.
Direktflüge nach Russland gibt es seit dem Ukraine-Krieg nicht mehr. Private Besuche werden erschwert. Uns sind Kontakte mit der Oma unserer Kinder wichtig. Der Flug über ein Drittland dauert viel länger und ist umständlich.
Von Göran Westphal
Ich hatte die Idee, unser jüngstes Kind russisch-orthodox taufen zu lassen. Die Taufe ist auch in der evangelischen Kirche anerkannt. Da hätte die russische Verwandtschaft mitfeiern können. Auch wollte ich damit die russische Kirche zu unterstützen bei Gebäudesanierung und Jugendarbeit.
Meine Schwiegermutter hat sich wie viele andere Russen Anfang der 90er Jahre taufen lassen. Sie sagt gläubig zu sein, besucht aber selten Gottesdienste. Es gebe täglich mehrere Gottesdienste in der nahgelegenen sanierten Kirche, die Zahl der Gottesdienstbesucher steige. Sie begründet dies auch mit Menschen, die im Ukraine-Krieg Angehörige verloren haben. Sie sagt, dass es den Kirchen finanziell jetzt besser gehe, sie erhalten großzügige Spenden. Kirchensteuern gibt es nicht, das Spendensystem bewähre sich seit Jahrhunderten.
In den Autos, in denen ich mitfahre, sehe ich keine christlichen Bilder oder Kreuze am Rückspiegel. Ich frage Verwandte nach deren christlichem Glauben. Dima, der junge Neffe meiner Frau ist verheiratet, sie erwarten ein Kind. Er ist getauft, seine Frau nicht. Er erklärt, dass das Kind nicht getauft werde, die Frage überrascht ihn. Dabei könnte er als großgewachsener, hagerer Mann mit Bart und langen Haaren sofort eine Jesus-Rolle übernehmen.
Ganz anderes höre ich beim Besuch von Walja und ihrem Mann Juri in der Nachbarstadt. Ich kenne sie seit meinem einjährigen Studium in Russland nach der Wende. Beides intelligente Menschen, Ingenieure, Juri hat viele Jahre für die UNO im Ausland gearbeitet. Auf der Fahrt vom Busbahnhof zur Wohnung fällt mir auf, dass Walja besonders auf die Kirchen hinweist, an denen wir vorbeifahren. Über dem Sofa im Wohnzimmer hängt ein Plakat mit einer Ikone von Andrej Rubljow. Ihr ist wichtiger, mir mit Stolz das für mich kitschige große Jesus-Porträt daneben zu zeigen, eine Seidenarbeit aus Südkorea. Die gläubige Walja spricht ausführlich über Krieg und die Unzufriedenheit der Menschen. Sie meint, dass jeder Aufstand, Krieg und Machtwechsel lange Zeit nur zu weiterer Unzufriedenheit und Verschlechterung der Lebensverhältnisse führen. Im Linienbus auf der Rückfahrt sehe ich beim Fahrer eine Ikone und Christusbilder.
Der aktuelle Krieg ist kein Thema. Ich hatte gedacht auch darüber ins Gespräch zu kommen – es kommt nicht dazu. Das liegt an meinen Russischkenntnissen, der unpassenden Situation bei Familienfesten oder der sommerlichen Stimmung im Ferienhaus am See. Unterschwellig höre ich eher Zustimmung zur russischen Seite heraus.
Wir waren auch in Moskau – erneut eine laute und lebendige Stadt mit vielen Baustellen und langen Staus. In Kremlnähe entdecken wir eine Bilderwand mit Hunderten Fotos von Toten des Ukraine-Krieges, überraschend viele junge Frauen. Ich dachte zuerst an eine Aktion von Kriegsgegnern. Es ist jedoch ein Ort der Verehrung für diese Menschen.
Die Idee, unsere Jüngste in Russland taufen zu lassen, war wohl zu spontan, so schnell geht es nicht. Wir haben auch keine Bindung an die russisch-orthodoxe Gemeinde in Weimar. Unsere Tochter wollen wir jetzt hier taufen lassen, unseren Pfarrer haben wir schon gefragt. Da kann hoffentlich auch meine Schwiegermutter uns besuchen und mitfeiern.
Autor:Online-Redaktion |
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