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Meister Eckhart
Anregungen für das Leben heute

Foto: commons.wikimedia.org/Michael Sander

Der Thüringer Ordensgelehrte Eckhart von Hochheim OP wurde wie Thomas von Aquin zwei Mal als Magister der Theologie nach Paris berufen und verstand sich als wissenschaftlicher Theologe. Andererseits war er als Leiter der größten dominikanischen Ordensprovinz im zentraleuropäischen Raum mit intensiven praktischen, organisatorischen und reformerischen Tätigkeiten betraut. Doch Magister - oder Meister - Eckhart predigte nicht nur in Dominikanerklöstern.

Von Dietmar Mieth

Als bedeutender religiöser Former der Volkssprache in den mittelhochdeutschen Dialekten seiner Zeit richtete Eckhart sich allgemein an das Volk, wie auch an Menschen mit einer besonderen religiösen Lebensform, wie die Beginen. Diese Gruppen von Frauen außerhalb des Klosterlebens, die das gemeinsames Beten, aber auch das gemeinsame Wirtschaften und die Sozialfürsorge pflegten, wurden auch „Nonnen“ genannt. Davon zeugt noch die „Nonnengasse“ in Erfurt unweit des Predigerklosters, wo die Beginen ihren Konvent hatten.

Unter dem Namen Meister Eckharts sind neben seinen lateinischen Werken fast 200 Predigten und einige Lesetraktate in Handschriften überliefert. Seine Bedeutung für die Formung der deutschen Begriffssprache ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Hinwendung Eckharts zur Volkssprache kann man mit Dante Alighieri in Italien und Raimundus Lullus in Spanien vergleichen. Im Zusammenhang mit dem interreligiösen Dialog stellt Eckhart heute eine allererste christliche Adresse dar. Religiös weiträumige Leseverfahren sind deshalb möglich, weil Eckhart es zu seinem Programm erhob, die Bibel mit allgemein verständlichen Gründen auszulegen.

Für das Leben aus dem Glauben lehrt Eckhart den „Durchbruch“. Dieser bedarf der Bereitschaft für ein anderes Leben (in Freiheit und Gelassenheit) und die „Geburt“ Gottes im Herzen des Menschen, welcher wiederum Christus mit seinen Gedanken und Handlungen in das Herz Gottes „zurückgebärt“. Die Nähe zwischen Gott und Mensch wird von Eckhart in einzigartiger Dichte beschrieben und im Zauber einer Sprache dargestellt, die überreich an Bildern ist, aber gleichzeitig die Unzulänglichkeit der Beschreibung mit Worten aufzeigt.
Schöpfung ist in Eckharts Auslegung anfangs- und endlos, da das Wirken Gottes quer zum geschichtlichen Zeitablauf steht. Das Schöpfungswirken Gottes geschieht heute ebenso unmittelbar wie vorher. „Ewigkeit“ ist keine verlängerte Zeit, sondern eine andere Dimension der Wirklichkeit, die an jeder Stelle in die Zeit hineinreicht. Wir können „Gott“ in seinen Büchern der Schöpfung und der Offenbarung lesen, so Eckhart, seine „Gottheit“ in sich selbst bleibt freilich für uns verborgen. Ein Beispiel ist die Erfahrung des Lichtes in der Dunkelheit: Selbst in der Nacht ist die Wärme noch spürbar, die die Tagessonne hinterlassen hat und man schließt im Dunkel von der Wärme auf das Licht, aus dem man kam.

Gott ist nicht „oben“, sondern „innen“, sagt Eckhart. In Loslösung von seiner Selbstsucht und in freier Überlassenheit an Gottes Wirken gestaltet der Mensch sich und die Welt neu. Die Inwendigkeit Gottes im Menschen wird von Eckhart so ausgedrückt, dass Gott im Menschen geboren wird (Joh 3,5; Lk 17,21 in Luther 1950, New King James Bible u.a.). Jesus wurde historisch Mensch, aber gesehen von der Zuwendung Gottes in jedem „Jetzt“, zu aller Zeit, ist der Sohn in der Trinität immer Gott und Mensch zugleich. Der Mensch kann die - durch die Menschheitswerdung Gottes - ihm zugewandte und in ihn eindringende Gottmenschlichkeit in seinem Seelengrund entdecken („Seelenfunke“) und freilegen, indem er für Gott offen ist, sich von ihm suchen lässt und ihm so zugewandt bleibt, dass er in jeder seiner Handlungen den Weg in Gottes Herz (oder Gottes „Schoß“) zurückfindet. Mit Jesus wird Gott im Menschen geboren, so Eckhart (vgl. Luther: „Du bist weit davon entfernt, Gott wahrhaftig zu erkennen. Du meinst, Du hast diese Erkenntnis. Aber du musst zuvor ein anderer Mensch werden. Du musst neu geboren werden. Diese Geburt schenkt dir das ganze Wesen neu. Wer Gott erkennen will, muss diese neue Geburt empfangen.“).

Der Geburt Christi im Menschen entspricht die Geburt des Menschen in Gott, so Eckhart. Freilich ist dies ein Prozess, den man an keiner besonderen „Stelle“ im Menschen festmachen kann. Wenn Eckhart vom Seelengrund spricht, sieht er Gott hindurchziehen, dort festgehalten ist er nicht. Aus diesem Prozess, der jedem möglich ist, kann der Mensch durch die Sünde heraus geraten. Aber Eckhart hat die frohe Botschaft, dass dieses Geschehen mit jeder Reue und Buße ungeschmälert wieder aufersteht. Die Hölle ziehen sich die Menschen selber zu. Sie verschließen dann selbst die Türen, um ihr nicht entkommen zu müssen. Das tut Gott nicht von sich aus: sein Name ist „Barmherzigkeit“.

Um Eckharts Lebenslehre zu verdeutlichen, hilft seine Fragestellung. Wenn es drei Fragen gäbe: - Wie weiß ich, was ich zu tun habe? Wie will ich, was ich soll? Wie kann ich, was ich will? - dann steht die letzte Frage für Eckhart im Vordergrund: Wie kann ich so sein, dass ich das Gute und Richtige tue? Denn Eckhart war der Überzeugung, dass man anders zu sein habe, um die Veränderung, die man anstrebt, umzusetzen. Mit dieser inneren Ausrichtung ist für Eckhart das Tätigsein ebenso wichtig wie die kontemplative Gottesbeziehung. Die Einheit besteht im Wirken mit Gottes Wirken: „Gott wirkt und ich werde.“ Der kontemplative Lebensbetrachter ist daher auch der aktive Gestalter. Man kann spirituell erst erfolgreich „üben“, wenn der Sprung ins Anderssein des Bewusstseins mit dem (Los-) Lassen der eigenen Besonderheiten, auf die man sich viel einbildet, erreicht ist.

Die Überzeugung Eckharts, dass der Mensch gerade im gewöhnlichen „Gewerbe“ Gott wirken lassen kann, hat der Eckhart-Schüler Johannes Tauler OP umgesetzt, indem er auch die weltliche Berufung des Christenmenschen als einen Ort beschrieb, an dem Gott mit der Verwirklichung von Schöpfung und Heilerwirkung im Tätigsein gegenwärtig ist. Dies hat auch Martin Luther maßgeblich beeinflusst, der schon früh in seiner Tauler-Ausgabe Predigten von Eckhart las, in welchen dieser von der Menschwerdung als Gottesgeburt in jeder bereiten Seele sprach, die sich ihrer eigenen Innerlichkeit öffnet und damit empfänglich wird.

Wie ist Eckhart als Theologe, als Lehrmeister des Glaubens, zu verstehen? Es geht ihm um die Nähe von Gottes Offenbarung als Vater, Sohn und Geist mit den Prozessen von Schöpfung, Menschwerdung und Erlösung. Dabei steht für ihn nicht die Sünde im Vordergrund. Sie ist Ausdruck der geschöpflichen Nichtigkeit des Menschen ohne Gott. Andererseits sind Jesu Geschichte und Schicksal exemplarisch für Trost im Leiden, was in Eckharts Schrift „Buch der göttlichen Tröstung“ zum Ausdruck kommt. An der Hand Gottes wieder aufzustehen, schenkt Erlösung und Freiheit, denn Gott gab sich selbst in die Menschheit und adelte dadurch alle Menschen in ihrer göttlichen Bestimmung. Die Menschwerdung Gottes begründet die spezifische Würde des Menschen, an der alle Menschen teilhaben. Deshalb sind die theologischen Einsichten Eckharts auch interreligiös sehr fruchtbringend.

Mit einem Bild kann man Eckharts Faszination heute näher bringen. Wer die Bibel als erzählte Geschichte des Menschen mit dem Gott Abrahams und seinen Gotteserfahrungen liest, erlebt viele Abwege und Irrwege sowie eine große Vielfalt und Entwicklung der Zugänge im Glauben. Meister Eckhart versucht, diese Geschichte als eine neue, übergreifende Sprache zu lesen. Er faltet all das, was nacheinander geschieht, zu einer einzigen noch oben strebenden Säule zusammen, die mitten in einem weiten unendlichen Horizont steht. An die Stelle des Sich-Verlierens in der Weite tritt die Erfahrung einer starken inneren Orientierung. Aber diese Orientierung bleibt wie ein alter Pater-noster-Aufzug in Bewegung, oben und unten rotiert die Scheibe und bleibt nicht stehen.

Das bis heute zugängliche Werk Eckharts wurde neu ins Englische und ins Japanische übersetzt, es liegt ebenso in französisch, italienisch und spanisch vor und wird weit über die Geisteswissenschaften hinaus rezipiert. Angesichts einer schwindelerregenden Beschleunigung aller Lebensprozesse und der zunehmend undurchsichtigen Komplexität der Welt suchen Menschen verschiedenster kultureller und religiöser Prägung Auskunft bei Eckhart. Sie suchen eine „Stelle“ im Prozess des Fließens, wo das Vorher und Nachher zusammen spürbar, das Oben und unten zugleich sind. Leonardo da Vinci hat dafür das Bild gebraucht, dass man eine Hand in das fließende Wasser hält und so „Vorher“ und „Nachher“ zugleich empfindet. Der Moment des Zugleich, wo Zeit und Raum aufgehoben sind, ist auch im berühmten Fresko Michelangelos von der Erschaffung des Menschen in der Sixtinischen Kappelle zu sehen. Das Bild gibt wieder, was Eckhart mit „Schöpfung und Menschwerdung - jetzt“ meint. Dies betrifft auch die generelle Verantwortung des Menschen für die Gestaltung der Schöpfung. Eckhart sagt: „Schaut, was ihr alle tut!“. Und ebenso wie hier, bleiben wir auch hinter der Aufgabe, die Menschenwürde aller Menschen zu achten, weit zurück. Das Heil aller Menschen ist Eckharts Inbegriff von Gottes Gerechtigkeit.

Mit Eckhart wird die universale Weite des Christentums sichtbar, die andere einbezieht, ohne sie zu vereinnahmen. Seine Bibel ist eine universale, religiöse, vom Christentum ausgehende Sprache für alle Menschen. Mit Eckhart fällt es leichter, in die Unendlichkeit der Welt hineinzublicken, ohne Beschränkung durch Zeit und Raum. Mit Eckhart fällt es leichter, unsere Existenz sowohl in ihrer Größe, wie in ihrem Elend zu verstehen und auszuhalten. Mit Eckhart fällt es leichter, einen aktiven Anfang zu setzen.

Der Autor ist Theologe und emeritierter Professor für „Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften“ an der Universität Tübingen.

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