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"Bach war bestenfalls dritte Wahl"
Vor 300 Jahren, am 7. Februar 1723, hatte Johann Sebastian Bach sein "Bewerbungsgespräch" in Leipzig für die Stelle als Thomaskantor. Der Köthener Hofkapellmeister führte zwei Kantaten auf, war aber dennoch zuerst nur dritte Wahl. Karin Wollschläger sprach mit dem derzeitigen Amtsinhaber, Andreas Reize, über musikalische Größe und menschliche Schwächen.
Was hat Johann Sebastian Bach bewogen, sich auf Ihre Stelle zu bewerben?
Andreas Reize: Wir wissen über die Ratsprotokolle zum Auswahlverfahren, dass Bach bestenfalls dritte Wahl war – Georg Philipp Telemann war der klare Favorit. Nach dessen Absage kam Christoph Graupner ins Spiel, der dann schließlich absagen musste. Leider fehlen die Passagen, warum Bach am Ende doch den Zuschlag bekam. Er bewarb sich ja aus seiner Stelle als Kapellmeister in Köthen heraus. Er hatte da eigentlich alles: ein Profi-Orchester am Hof, ein professionelles Sänger-Ensemble, darunter auch seine spätere Ehefrau Anna Magdalena. Aber dann begann sein Dienstherr, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, immer mehr Schulden zu machen, heiratete eine wenig der Musik zugetane Frau – eine "Amusa" wie Bach an Georg Erdmann schreibt – und die Hofkapelle wurde verkleinert. Da Bach aber weiterhin große Ambitionen hatte, bewarb er sich nach Leipzig.
Also war Leipzig ein Abstieg für ihn?
Na, also der Titel Kapellmeister aus Köthen war ihm schon sehr wichtig, und er nannte sich in Leipzig auch weiter so. Nur Thomaskantor war ihm zu wenig. Finanziell hat er sich in Leipzig nicht unbedingt verbessert. Er begründete den Wechsel letztlich mit zwei Dingen: der familiären Situation – seine ältesten beiden Söhne begannen mit dem Studium, da bot sich die Studentenstadt Leipzig an. Zum anderen war sein musikalisches Hauptanliegen, Kirchenmusik zu Gottes Ehren zu schreiben – und das konnte er mit der Leipziger Stelle bestens, anders als in Köthen.
Wie würden Sie Bach beschreiben?
Bach ist universell. Bach war theologisch höchst gebildet. Er steht wie eine Sonne inmitten der musikalisch-bachischen Familie. In dieser großen Musikerfamilie hat er alles mitbekommen, was man an musikalischer Bildung damals mitbekommen konnte, und zwar auf höchstem Level. Im Umgang war er vermutlich weniger zugänglich als ich (lacht). Er war wohl ein Mensch mit Ecken und Kanten. Aus Ratsprotokollen wissen wir, dass er sich immer mal wieder mit Leuten angelegt hat. Das hat in Arnstadt begonnen und zog sich dann bis Leipzig hin. Ich denke, er hatte einfach höchste Ansprüche und war kein Mann der Kompromisse. Er hat ganz genau gewusst, was er will.
Wie sehr setzt Ihre Interpretation von Bach die Beschäftigung mit Theologie voraus?
Das ist mein täglich Brot. Ich könnte mir keine Beschäftigung mit Bach vorstellen, wenn ich mich nicht intensivst mit den Texten und der Theologie beschäftigen würde. Manches überfordert mich auch, da bitte ich dann zum Beispiel die Thomaskirchen-Pfarrerin Britta Taddiken um Hilfe. Und für mich stellt sich dann immer noch die Aufgabe, wie ich das Ganze einem neunjährigen Thomaner erklären und vermitteln kann.
Wie viel Freiraum lässt Ihnen dieser Übervater bei der Gestaltung Ihres Jobs?
Viel, sehr viel. Wenn ich jetzt zum Beispiel die Johannes-Passion vorbereite, die in zwei Monaten ansteht, dann ist mein Schreibtisch voll mit Bibel, Partitur, Quellen und ganz viel Literatur dazu. Ich befasse mich exzessiv damit und versuche, Bach möglichst nahe zu sein, bis ich das Gefühl habe, ich bin voll von seiner Botschaft durchtränkt – und finde dann meine eigene Interpretation.
"Bach würde sich im Grabe umdrehen!" – Wäre das die schlimmste Kritik an Ihrer Arbeit?
Das hat er vielleicht schon gemacht. Ich denke, er war schon sehr kritisch, und man konnte es ihm wohl kaum recht machen. Davon berichten auch seine Schüler. Von dem her bin ich da ziemlich entspannt.
(kna)
Autor:Online-Redaktion |
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