DDR-KIRCHENVERLUSTE # 48
Die verlorene Gnadenkirche in Berlin-Mitte
In der DDR wurden bis 1988 rund 60 Kirchen auf staatlichen Druck gesprengt. Die wohl bekannteste von ihnen war die Paulinerkirche Leipzig – auch Universitätskirche St. Pauli genannt – im Jahr 1968. Die Serie erinnert an verlorene Sakralbauten in Mitteldeutschland und darüber hinaus.
Die Gnadenkirche war die evangelische Kirche im Invalidenpark in Berlins Stadtteil Mitte. Sie hieß im Volksmund auch Augustakirche – in Erinnerung an Kaiserin Augusta – und Invalidenkirche – wegen der ursprünglichen Zugehörigkeit der Kirchengemeinde zum Invalidenhaus und wegen ihrer gelegentlichen Nutzung im Zusammenhang mit dem Invalidenfriedhof.
Geschichte
Zum Militärpfarramt des Invalidenhauses gehörte neben der Militärgemeinde seit Ende des 18. Jahrhunderts auch eine evangelische Zivilgemeinde. Diese wuchs wegen der territorial großflächigen Pfarrei im 19. Jahrhundert auf 25.000 Mitglieder – trotz Wechsel von Gemeindemitgliedern, die östlich der Chausseestraße wohnten, zur Sophiengemeinde und trotz Entstehung der Dankeskirchengemeinde am Wedding.
Die zivile Kirchengemeinde konnte lediglich die Kapelle des Invalidenhauses nutzen. Im Jahr 1866 wurde sie eigenständige Gemeinde und sollte ihr eigenes Gotteshaus bekommen. Der katholischen Zivilgemeinde gelang das eher mit dem Bau ihrer Pfarrkirche St. Sebastian.
Für den Bau der Gnadenkirche war im Mai 1890 der Evangelische Kirchenbauverein unter Patronat der Kaiserin Auguste Viktoria entstanden. Er hatte sich „die Bekämpfung der religiös-sittlichen Notstände in Berlin und anderen Städten in den Industriegebieten“ mittels Unterstützung von Kirchenbauvorhaben zur Aufgabe gemacht – und auch um den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft einzudämmen. Dafür gab es von höherer Stelle für das Vorhaben finanzielle Förderung sowie Hilfe bei der Überwindung bürokratischer Hindernisse.
Nach Beilegung von Streitigkeiten mit der Stadt Berlin um die Kosten und mit dem Militärfiskus um das Grundstück für die Kirche wurde am 11. Juni 1890 der Grundstein gelegt. Der Name Gnadenkirche erklärt sich aus der kostenlosen Überlassung des Baugrundstücks im Invalidenpark seitens des Deutschen Reiches an den Staat Preußen sowie ein „Gnadengeschenk“ des Kaiserhauses in Höhe von 300.000 Mark. Sie erhielt den Namen am 23. Mai 1890.
Der Kirchenbau war der Erinnerung an die verstorbene Kaiserin Augusta gewidmet – daher Kaiserin-Augusta-Gedächtniskirche. Weihe war am 22. März 1895 im Beisein des Kaiserpaares, des Großherzogs und der Großherzogin von Baden sowie etlicher Prinzessinnen und Prinzen.
Bauwerk
Erbaut hatte die Kirche der Architekt Max Spitta im frühromanischen Stil. Spitta orientierte sich dabei an der staufischen Romanik, der im 13. Jahrhundert erbauten Kirche St. Peter in Sinzig und dem Limburger Dom. Die Glasfenster gestaltete und produzierte der Glasmaler Alexander Linnemann aus Frankfurt. Die Mosaiken schuf die Deutsche Glasmosaik-Anstalt von Wiegmann, Puhl & Wagner.
Die Kirche hatte 1.550 Plätze, davon 950 feste Plätze im Kirchenschiff, 490 auf den Emporen und 110 in den oberen Seitengängen um den Altarraum. Vor der königlichen Loge stand die geschnitzte Holzfigur eines Knappen mit Hohenzollern-Schild, geschaffen und gestiftet von Holzbildhauer Gustav Kuntzsch aus Wernigerode. Der Kirchturm war etwa 69 Meter hoch.
Die Baukosten beliefen sich auf rund 800.000 Mark – was heute rund 6 Millionen Euro entspräche – und Kosten für die Inneneinrichtung auf rund 200.000 Mark.
Diese Summe wurde folgendermaßen aufgebracht: Neben dem Gnadengeschenk schenkten der Großherzog und die Großherzogin von Baden, der Großherzog von Weimar und der Fürst von Hohenzollern zusammen 200.000 Mark sowie die vereinigten Kreissynoden 100.000 Mark. Von evangelischen Gemeinden Berlins und aus den Provinzen – besonders aus der Rheinprovinz – wurden 345.000 Mark gespendet. Die Differenz brachte die Gnadenkirchen-Gemeinde selbst auf. Die Gnadenkirche diente auch als Ort der Feiern bei Beerdigungen auf dem nahen Invalidenfriedhof.
Zweiter Weltkrieg und danach
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gotteshaus bei Bombenangriffen auf Berlin schwer beschädigt. Anschließend nutzten es zunächst Ausgebombte und Obdachlose als Notunterkunft. In der Nachkriegszeit raubten Plünderer die Inneneinrichtung der offenen Kirche und stahlen wertvolle Materialien, so auch die Bleiglasfenster.
Zur Reparatur seitens der Kirchengemeinde kam es nicht, weil es an Geld und an Material mangelte – und Ost-Berlins Behörden sahen es nicht als ihre Aufgabe an, den Kirchenverfall aufzuhalten.
Nachdem Buntmetalldiebe gegen Ende der 1940er Jahre auch die Kupferdächer der Kirche abgedeckt hatten, verfiel ihr Mauerwerk, das nun der Witterung ungeschützt preisgegeben war.
Sprengung 1967
Die Kirchengemeinde wünschte sich –wie andere Gemeinden mit dem gleichen Schicksal – natürlich den Wiederaufbau ihres Gotteshauses. Doch das blieb ein frommer Wunsch: Die Gnadenkirche wurde 1967 gesprengt. Was in den gut zwei Jahrzehnten zuvor an Versuchen zur Rettung und Bewahrung des Sakralbaus geschah, ist aus den per Internet zugänglichen Quellen nicht erkennbar.
Jüngere Vergangenheit und Gegenwart
Die Gnadengemeinde gehört heute zur Evangelischen Kirchengemeinde am Weinberg (bis 31. Dezember 2013: Evangelische Kirchengemeinde Sophien) im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte.
Im 1997 neugestalteten Invalidenpark gibt es eine Skulptur: Auf einer Rasenfläche steht ein Wasserbecken, in dessen Mitte ein schmales Granit-Kunstwerk namens „Versunkene Mauer“ aus dem Wasser ragt. Es erinnert an die verlorene Kirche und an die dort nahegelegene einstige Berliner Mauer.
Koordinaten: 52° 31′ 45″ N, 13° 22′ 35″ O
https://de.wikipedia.org/wiki/Gnadenkirche_(Berlin-Mitte)
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)
Autor:Holger Zürch |
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