Uraufführung: Wassily Kandinskys »Violett« im Anhaltischen Theater in Dessau
Ein alle Sinne betörendes Gesamtkunstwerk
Zwischen Weltkulturerbe, spiegelnden Glasfassaden und edlem Design fällt es manchmal schwer, die Radikalität der Bauhauszeit heute noch nachzuvollziehen. Im Umfeld des Jubiläums, das derzeit eine große Zahl hochkarätiger Veranstaltungen nach Dessau-Roßlau bringt, zeigte hingegen die Berliner Tanztheatertruppe »Nico and the Navigators« in »Verrat der Bilder« hintersinnig die Möglichkeiten technischer Innovation auf: In kleinen Gruppen bewegte sich das Publikum mit Augmented-Reality-Brillen durch die berühmten Meisterhäuser.
Das Anhaltische Theater in Dessau hilft auf seine Weise der Erweckung der Avantgarde und hat am 13. September Wassily Kandinskys Bühnenkomposition »Violett« in der Inszenierung von Arila Siegert zur spektakulären Uraufführung gebracht.
Als Bauhausmeister ab 1922 war der Gründervater der Moderne nicht für die Bühnenklasse zuständig, hat im Laufe seines Lebens aber mit ganz eigenen Theaterformen experimentiert, die das Zusammenfließen aller Kunstformen, von Licht, Farbe und Formen, vorsahen. Es war Theaterkunst eines Synästhetikers zwischen Dadaismus, Expressionismus und Abstraktion. Am Dessauer Theater wurde 1928 Kandinskys Bühnenstück »Bilder einer Ausstellung« nach Mussorgsky inszeniert, ohne Menschen. »Violett« hingegen sieht neben stilisierten Paarsituationen regelrechte Volksmassen vor, für die Moritz Nitsche eine Raumbühne unter den gigantischen Dessauer Bühnenturm gebaut hat. Diese wiederum nimmt Bezug auf Walter Gropius’ Idee eines »Totaltheaters« und seinen Entwurf eines Theaterbaus für Erwin Piscator, der nie realisiert wurde. So finden die großen Bauhausmeister also auch auf der Bühne zueinander.
Die Zuschauer nehmen im Halbrund um die Drehbühne herum Platz. Und erleben ein 90-minütiges, alle Sinne betörendes Gesamtkunstwerk aus Instrumentalmusik und Gesang (Leitung: Sebastian Kennerknecht), projizierter Live-Malerei (Helge Leiberg), Lichtdesign und Videoprojektion (Guido Petzold) sowie Bühnenaktion. Das ist wunderbares, experimentelles Theater, das sich selbst genug ist. Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Und doch wirft Kandinsky Gruppen und Einzelpersonen (ein Großaufgebot von Tänzern, Solisten, Opernchor und Statisten, Kostüme: Marie-Luise Strandt) in archetypische Situationen, denen der moderne, der Welt entfremdete Mensch ausgesetzt ist: zu wechselndem Farblicht hetzen Frauen, Männer, Kinder durch den Alltag, feiern in der Masse und verschwinden in ihr, beten den Konsum an, der statt eines goldenen Kalbes als riesenhafter schwarzer Stier daherkommt. Die Kommunikation zwischen Mann und Frau erschöpft sich in Worthülsen, Albernheiten und Ratlosigkeit. Diese Realitätsbezüge sind freilich so stilisiert, dass nie Peinlichkeit aufkommt. Kongenial begleitet und befördert die collagenhafte Musik von Ali N. Askin das Geschehen – der Einfluss Frank Zappas ist deutlich zu hören. Sieben Musiker der Anhaltischen Philharmonie nehmen mit wunderbaren Soli am Theater teil. Am Ende kulminieren geometrische Formen an der Wand. Dann ein Knall. Ende. Applaus.
Johannes Killyen
Autor:Online-Redaktion |
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