Gesellschaft
Hasters: Die Gesellschaft durchlebt eine krisenhafte Pubertät
Die freie Autorin und Podcasterin Alice Hasters (34) wurde 2020 in der «Black Lives Matter»-Bewegung durch ihr Buch «Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten» bekannt, in dem sie über Alltagsrassismus berichtete, den auch sie als Schwarze Deutsche erfährt. Nun erscheint ihr neues Buch «Identitätskrise». Darin beschreibt sie, warum die Erzählung des Westens von Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit nicht aufgeht. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sprach sie darüber, warum sich die Gesellschaft in der Pubertät befindet und was die Identitätskrise mit dem Aufstieg der Neuen Rechten zu tun hat.
epd: Warum befindet sich die Gesellschaft in einer Krise?
Alice Hasters: Die Gesellschaft befindet sich in mehreren Krisen: Die Klimakrise ist sicherlich die größte. Es herrscht eine Wirtschaftskrise. Außerdem haben wir die Frage nicht geklärt, wie wir mit geflüchteten Menschen umgehen. Es gibt einen Pflegenotstand. Und all diese Krisen werden begleitet von einer Identitätskrise. Das, worauf wir uns bislang immer verlassen haben, funktioniert nicht mehr.
Sie schreiben, die Gesellschaft befinde sich im Zustand der Pubertät - ist sie nicht eigentlich zu alt dafür? Warum gerät sie jetzt erst in die Krise?
Die moderne Welt ist geprägt von stetigem und schnellem Wandel. Vor zwei Jahrzehnten hatten wir noch kein Googlemaps und heute wissen wir gar nicht mehr, wie wir ohne zurechtkommen. Durch den permanenten Wandel befinden wir uns eigentlich dauerhaft in der Pubertät. In Krisenzeiten ist sie aber kein lustiges Abenteuer, sondern hat etwas Selbstzerstörerisches. Die Gesellschaft baut Mist und gerät außer Kontrolle.
In Ihrem Buch dekonstruieren Sie die Selbsterzählung des Westens. Was sind Ihre zentralen Punkte?
Die großen Versprechen der westlichen Gesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hießen, dass wir eine Gesellschaft schaffen wollen, die global, gleichberechtigt, universalistisch ist und Freiheit für alle möchte. In den 90er Jahren, in denen ich in Westdeutschland aufgewachsen bin, fühlte es sich kurz so an, dass wir das hinkriegen. Es gab die Hoffnung, dass meine Generation die Generation ist, die den Weltfrieden wirklich erleben wird. Mit diesen sogenannten westlichen Werten, Individualismus, Freiheit, Wohlstand, Gleichberechtigung hat sich meine Generation total identifiziert.
Dann haben wir aber durch 9/11 und die Euro-Krise verstanden, dass es mit dem Glück etwas komplizierter ist.
Beim Blick in die Vergangenheit kommt hinzu, dass diese Versprechen auf einer Schieflage aufgebaut wurden. Natürlich haben verschiedene emanzipatorische Kämpfe etwas vorangebracht. Aber wir sind nie ans Ziel einer wirklich gerechten Gesellschaft gekommen.
Diese Desillusionierung hat mich dazu gebracht, in dem Buch durchaus provokant die westlichen Werte zu dekonstruieren.
Haben diese Werte dann ausgedient?
Der Westen muss sich nicht von diesen Werten verabschieden, sondern von der Beanspruchung, dass es seine Werte sind. Diese Werte mit einer Identität zu besetzen, ist der erste Fehler, weil es paradox ist. Wie sollen alle Menschen gleichberechtigt sein, sich aber dann westlichen Werten unterordnen? Die zweite Frage ist, wie wir diese Werte interpretieren. Was bedeutet Freiheit in einer Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg für Menschen, die wenig besitzen, schwerer wird und gleichzeitig die Zahl von Millionären wächst? Freiheit sollte nicht heißen, dass einige wenige machen können, was sie wollen, und alle anderen eingeschränkt sind.
In Ihrem Buch fordern Sie ein «Leben für alle». Was meinen Sie damit?
Die Diskurse beziehen sich derzeit sehr stark auf Identität und Identitätskämpfe. Das wird oft falsch verstanden. Rechten Kräften geht es um ihre Identität. Der anderen Seite geht es um die Frage, wie wir alle gut leben können. Wir müssen bereit sein, Identitäten umzuinterpretieren und aufzugeben, wenn dadurch Menschen besser leben können.
Ist der Aufstieg der Neuen Rechten für Sie Ausdruck dieser Identitätskrise?
Die Menschen sind sich sehr bewusst, dass es unterschiedliche Krisen wie die Klimakrise gibt. Sie sind sich auch bewusst, dass gerade weltweit viele Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen. Jetzt gewinnt eine Partei an Beliebtheit, die verspricht, dass sie eine Familie wieder als Gemeinschaft aus Mutter, Vater, Kind definiert, dass man wieder weiß, was «normal» und was deutsch ist. Sie vereinfacht Identitäten. Dadurch glaubt sie, den Menschen wieder eine Richtung geben zu können, ihnen sagen zu können, wer sie sind. Egal, wie viel Restriktion für andere das bedeutet.
Hauptsache, das Krisengefühl ist gelindert. Doch die Realität verändert sich dadurch nicht. Wir können so viele Grenzen dichtmachen, wie wir wollen, dann sterben dadurch Menschen. Dann geht die Geschichte, die wir uns erzählen, trotzdem nicht auf.
Das Problem scheint doch, dass es keine gemeinsame Realität mehr gibt.
Die Klimakrise ist dafür ein gutes Beispiel: Menschen sind bereit, eine wissenschaftlich gut belegte, über Jahrzehnte dokumentierte Krise lieber infrage zu stellen, anstatt sich zu überlegen, wie sie sich ändern müssen. Damit schützen sie ihr Selbstbild, das heißt, die Geschichte, die sie über sich erzählen, was ich als Identität definiere. Diese Kopfturnerei ist so mächtig.
Menschen wollen bei ihrer Identität bleiben.
Wie stehen Sie zu dem Begriff Identitätspolitik?
Mir gefällt dieser Begriff nicht. Der Begriff der linken Identitätspolitik ist von den Rechten so interpretiert worden, dass sie Identitäten hierarchisieren. Sie können sich nicht vorstellen, dass Menschen, die ihre Identität vertreten wollen, nicht sofort einen Machtanspruch haben, sondern lediglich einen Anspruch auf Gleichberechtigung. Zu fordern, dass Schwarze Menschen, Frauen oder queere Menschen repräsentiert werden, heißt nicht, dass andere Gruppen sich unterordnen sollen.
Menschen, die glauben, all das hätte nichts mit ihnen zu tun, fühlen sich deswegen bevormundet. Doch es funktioniert nicht, dass Frauen sich emanzipieren und Männer einfach weitermachen, wie gewohnt. Wenn das Gegenüber sich verändert, verändern sich beide. Das Verhältnis verändert sich.
Haben Sie Hoffnung, dass sich diese Krisen und Ungleichgewichte auflösen lassen?
Viele Menschen investieren viel, um Lösungen zu finden.
Deswegen ist nicht alles verloren. Aber die Option, dass wir scheitern, ist da. Ich glaube auch, dass Identitätskrisen sich nicht lösen lassen, indem wir Identitäten ausdiskutieren. Sondern nur durch politisches Handeln. Wenn Vermögen besser verteilt wären oder Sorgearbeit, dann würden wir nicht über Identitäten reden.
Auf Social Media wird die Debatte über den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel gerade hochemotionalisiert geführt.
Es tut mir für die israelische und jüdische Community so Leid, dass es nach so einem brutalen Terrorangriff keine Zeit der Trauer zu geben scheint. Auch auf Social Media gibt es dafür keinen Raum und keinen Platz. Die israelische Gesellschaft hatte keine Zeit, den Schockzustand in Ruhe zu verarbeiten. Während man sich damit befasst, geht der Angriff schon weiter.
Für mich ist die Situation schon vergleichbar mit der Situation der USA nach 9/11. Damals haben wir gesehen, dass die Trauer in den 20 Jahre dauernden Afghanistan-Krieg mündete und in den Irak-Krieg, der auf einer Lüge basierte, eine hohe Verschuldung gebracht hat, viele Soldaten das Leben gekostet hat und diejenigen, die überlebt haben, hoch traumatisiert hat. In der israelischen Regierung sitzen rechte Politiker, die die Palästina-Frage komplett ignorieren. Dass das die Politiker sind, die jetzt Verantwortung tragen, macht auch Angst.
In einem Instagram-Post haben Sie angedeutet, dass für Sie der Nahost-Konflikt auch Ausdruck eines Identitätskampfes ist. Wie meinen Sie das?
Wir sehen, dass es auf der israelischen und der palästinensischen Seite eine Selbsterzählung gibt. Diese Geschichte geht nicht auf, wenn man die Existenz und die Geschichte der anderen anerkennt. Für mich ist von außen betrachtet die Identität das, was dem Frieden am meisten im Wege steht. Könnte man das loslassen, wäre es möglich, besser zu schauen, was die Menschen dort brauchen, um frei und gleichberechtigt zu leben. Beide Seiten werden nicht dieselben bleiben können.
Autor:Katja Schmidtke |
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