Rezension
Mitten ins grüne Herz
Journalismus heißt, das zu veröffentlichen, was jemand anderes nicht veröffentlicht sehen will – alles andere ist Werbung“, sagte einst Georg Orwell. Verdient ein Journalist seine Brötchen in solch einem kleinen Bundesland wie Thüringen – wo gefühlt alle alle kennen – dann ist es eine anspruchsvolle Sache, ein Journalist zu sein.
Von André Demut
Martin Debes wird diesem Anspruch gerecht. Das spiegelt diese Auswahl seiner „Zwischenruf“-Kolumnen, die er seit 2011 in der „Thüringer Allgemeine“ veröffentlicht. Kein Werbe-texter käme auf die Idee, sein Büchlein mit einem Kapitel zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ zu beginnen. Debes tut es. Kein Rennsteig-Lied-seliger Kolumnist würde im Schluss-Kapitel gründlich nachdenken über „die Widersprüche meines Heimatlandes, das sehr Verschiedenes gleichzeitig sein kann, kulturvoll und provinziell, gastfreundlich und fremdenfeindlich, weltoffen und verschlossen.“
Debes umkreist diese Widersprüche über zehn gut lesbare Kapitel hinweg. Mal sind die Kolumnen inhaltlich sortiert und mal chronologisch. Zugleich steht jeder Text für sich unter Überschriften wie „Das Virus“, „Machtwechsel“, „Aufruhr, Angst, AfD“ oder „Privatpolitisches“.
Wer jetzt simple Thüringen-Schelte vermutet, liegt falsch. Natürlich sind diese Kolumnen meinungsstarke Kommentare des Journalisten. Doch bei Debes liegt die Stärke der Meinung oft in der Fähigkeit, die Spannung eines realen „Einerseits – andererseits“ herauszuarbeiten.
"Wer jetzt simple Thüringen-Schelte vermutet, liegt falsch"
Man vergleiche zum Beispiel seine Kolumne zur „Verteidigung der Mitte“ vom September 2015 gegen die Lebenslügen sowohl von links als auch von rechts in der Migrationsfrage. Und wie Debes am 11. Februar 2020 – wenige Tage nach der Kemmerich-Wahl – „die Demokratiezerstörungsbrigade von der AfD“ beschreibt und gleichzeitig (!) die demokratische Herausforderung markiert, nicht „die Wahlentscheidung Hunderttausender zu diskreditieren“, halte ich für sehr bedenkenswert.
Debes zeigt viel von seiner Person und seiner persönlichen Geschichte. Es wirkt authentisch, wenn einer über das Land Thüringen schreibt, „aus dem die meisten meiner Vorfahren stammen“. Doch dieses Verfahren hat eine Schattenseite: Für mich erzeugt diese Verknüpfung von geschildertem persönlichen Erleben und politischer Reflexion mitunter eine emotionale Wucht, die meines Erachtens dem journalistischen Anliegen nicht guttut.
Journalismus lebt vom Distanz-nehmen-können. Manche Texte wirken auf mich so, als würde der Journalist manchmal jener romantischen Thüringer Selbstverzückung erliegen, gegen die er ansonsten tapfer anschreibt. Ob das tatsächlich ein Manko ist, mag jede Leserin und jeder Leser selbst entscheiden – lesenswert ist dieses Buch in jedem Fall.
Debes, Martin: Ach, Thüringen … Zwischenrufe aus einem seltsam schönen Land, Klartext Verlag, 191 S., ISBN 978-3-8375-2565-6; 16,95 Euro
Autor:Online-Redaktion |
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