documenta
Morbide Skulpturen im maroden Kirchenraum
Voodoo-Kunst in der Kirche: An diesem Wochenende geht die documenta zu Ende. St. Kunigundis zählt zu den meistbeachteten Standorten. Die dortige Ausstellung provoziert und zieht Publikum an. Für das seit Jahren verwaiste katholische Gotteshaus eröffnet sich eine neue Perspektive.
Von Helga Kristina Kothe
Morbide wirkende Skelettfiguren, in denen neben Metall und Schrott zum Teil auch menschliche Schädel und Gebeine verarbeitet sind, stellt «Atis Rezistans» in der St. Kunigundis-Kirche in Kassel aus. Mit seinen Mixed-Media-Arbeiten, die den Tod thematisieren, hat das Künstlerkollektiv aus Haiti die katholische Kirche zu einem Publikumsmagneten der noch bis 25. September dauernden «documenta fifteen» gemacht.
So viele Menschen wie in diesem Sommer hätten sich in den vergangenen Jahren nicht mehr in der wegen Sanierungsarbeiten stillgelegten Kirche versammelt, freut sich Pfarrer Martin Gies. An der Kunst, die auch von der Voodoo-Religion des karibischen Inselstaats beeinflusst ist, scheiden sich aber die Geister: Neben Begeisterung sorgen die inszenierten Skelette, die vom grausamen Tod und Krieg erzählen, und von Toten, die aus den Gräbern steigen, bei einigen Gläubigen auch für Befremden.
Kritiker, mit denen Gies stets das Gespräch sucht, zeigten sich entsetzt und schockiert, sagt er. Die Kirche habe den Raum geöffnet für Unheiliges und Dämonisches, zitiert der Gemeindepfarrer. Auch er selbst sei beim ersten Anblick der Skulpturen irritiert gewesen. Doch je mehr er über die Künstler erfahren habe, desto mehr habe er sich den Werken angenähert. Für die Gäste hat Gies einen einordnenden Text aufgehängt.
In Haiti, so ist zu lesen, geht es um die Welt der Lebenden und des Unsichtbaren, zwischen denen Voodoo-Geister eine Verbindung schaffen. Für Gies zeugen die Skulpturen von der Leidenschaft der Menschen fürs Leben. Er empfindet sie als Bereicherung: «Sie haben viele Berührungspunkte zur christlichen Religion und den Themen Tod und Auferstehung, in deren Tradition es seit jeher Darstellungen menschlicher Skelette gab.» So seien in vielen katholischen Reliquien, auch in St. Kunigundis, Knochenfragmente von Heiligen verarbeitet.
Hildegard und Wolfgang Granzner, die aus Attersee in Österreich zur documenta gekommen sind, spenden Beifall für die Ausstellung:
«Allein dafür hat sich die Reise gelohnt.» Die Begegnung mit den Skelettfiguren empfinden sie als berührend. Mit der Frage, was der Bischof dazu sage, verabschiedet sich das Ehepaar. Trotz Gegenwind steht Bischof Michael Gerber zur Entscheidung, die Kirche der documenta und ihren Kollektiven überlassen zu haben.
Das für Kassel zuständige Bistum Fulda begrüßt die Möglichkeit zur Begegnung der Kulturen durch die Schau, wie die Diözese mitteilt. «Die spirituellen Traditionen und Bilder aus Haiti mögen manchem Besucher zunächst fremd erscheinen. Doch gerade der bildliche Umgang mit dem Tod hat direkte Parallelen und Entsprechungen in der katholischen barocken Tradition», sagt ein Sprecher und verweist neben Schaureliquien in Kirchen auf die Darstellung eines realistischen Skeletts im Fuldaer Dom.
Für die denkmalgeschützte Kirche St. Kunigundis, die zur Pfarrei St. Antonius gehört, ist die documenta ein Glücksfall, wie Gies betont. Wenn die Skelettfiguren nach dem Ende der Weltkunstausstellung ausziehen und Besucherströme abebben, steht sie der Gemeinde wieder offen. Drei Jahre war das marode Gotteshaus geschlossen, weil die Betondecke bröckelte. Begonnene Renovierungsarbeiten seien 2019 gestoppt worden, als sich die Dimension der Schäden gezeigt habe, erläutert Gies. Eine Sanierung in Millionenhöhe sei angesichts der finanziellen Situation der Gemeinde und des Bistums derzeit nicht möglich.
«Dank der documenta wurde ein neues Gutachten zur Statik der Decke gemacht und ein Sicherheitsnetz angebracht, das verhindern soll, dass Besuchern und Künstlern Betonstücke auf den Kopf fallen», erklärt Gies. Das Sicherheitsnetz wird über die 100 Tage der Schau hinaus erhalten bleiben.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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