Bruce Springsteen 1988 in Ostberlin
Rockiger Zündfunke für Herbst 1989
Brennende Kerzen und Gebete haben maßgeblich zum Ende der DDR beigetragen, heißt es. Mutmacher und Kraftquell für das Aufbegehren Jugendlicher und jung gebliebener Leute in der DDR war auch Rockmusik von jenseits der Mauer. Das zeigte sich deutlich beim legendären Konzert von Bruce Springsteen vor 35 Jahren in Berlin-Weißensee.
Es war im doppelten Sinne einzigartig, das Bruce-Springsteen-Konzert am 19. Juli 1988 in Ost-Berlin: Es war das größte derartige Ereignis sowohl in der Geschichte der DDR als auch in der Konzerthistorie des US-Rockmusikers mit dem Spitznamen „Boss“. Mindestens 160.000 Zuschauer – vermutlich weit mehr – rockten mit ihm und seiner E-Street-Band auf der Radrennbahn Weißensee.
Vorgeschichte
Springsteens erster DDR-Besuch war im Jahr 1981: Während seiner Europatournee fuhr er aus West-Berlin mit seinem Gitarristen Steven Van Zandt in den Teil Berlins, der DDR-Hauptstadt war. In seiner Autobiografie von 2016 beschreibt er den Besuch als bedrückend, das dortige System sei für ihn „ein Schlag ins Gesicht der Menschlichkeit“ gewesen.
1987 veröffentlichte der Ausnahme-Musiker mit dem Spitznamen „Boss“ das Album „Tunnel of Love“ und war auf „Tunnel of Love Express Tour“ durch die USA und Westeuropa. Erstmals war auch ein Auftritt in der DDR im Gespräch, wo sich die Kulturpolitik stark geändert hatte. Dabei spielte auch eine Rolle, dass zuvor Konzerte weltbekannter Bands auf Westberlins Seite der Mauer – am Brandenburger Tor –, etwa von Pink Floyd, zahlreiche Zuhörer aus der DDR zur Ostseite angelockt hatten – sehr zum Missfallen der SED-Oberen und der DDR-Grenzsicherer.
Im Juni 1988 erklärte der Zentralrat der staatlichen, von der SED gelenkten DDR-Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ): „Rockkonzerte mit Zehntausenden Besuchern haben sich als wirksame Form der massenpolitischen Arbeit der FDJ unter der Jugend der DDR bewährt.“
Die verantwortlichen FDJ-Spitzenfunktionäre hatten von der SED-Spitze die Konzert-Genehmigung erhalten, weil sie angaben, es politisch nutzen zu wollen. Es sollte sich – ohne Springsteens Wissen und Einverständnis – um ein „Konzert für Nikaragua“ handeln. So stand es auf den Eintrittskarten und auf Transparenten vor Konzertbeginn an der Bühne.
Der Vorverkauf der mindestens 100.000 Tickets – andere Quellen sprechen von 160.000 Karten – erfolgte ausschließlich in Ost-Berlin; Kartenkontingente wurden auch an Betriebe in der DDR verteilt. 20.000 Karten sollten laut den Vorgaben der Planer an FDJ und Sicherheitsorgane gehen, außerdem je 1.000 an alle FDJ-Bezirksleitungen.
Der offizielle Kartenpreis war 20 DDR-Mark einschließlich 5 Pfennig Kulturabgabe. Zehntausende Springsteen-Fans aus allen Ecken der DDR, die nicht an ein Ticket herangekommen waren, fuhren kurzerhand ohne Eintrittskarte und auf gut Glück nach Berlin zum Konzert.
Das Konzert
Da es keine Karten mehr gab, kapitulierten die FDJ-Ordner nach kurzer Zeit angesichts der Menschenmassen: Die jungen Leute strömten an ihnen und den Absperrungen vorbei auf das Konzertgelände. Die Gesamtzahl der Zuschauer wurde später auf 160.000, 200.000, 300.000 oder gar 500.000 geschätzt. Springsteens Manager Jon Landau setzte vor dem Konzert durch, dass die von der FDJ aufgehängten Nikaragua-Transparente abgehängt wurden.
Das Konzert begann um 19:07 Uhr mit „Badlands“ und dauerte fast vier Stunden. Nach etwas mehr als einer Stunde zog Springsteen einen Zettel aus der Tasche und las auf Deutsch vor: „Es ist gut, in Ost-Berlin zu sein. Ich bin hier nicht für oder gegen irgendeine Regierung. Ich bin gekommen, um für euch Rock’n’Roll zu spielen, für euch Ost-Berliner, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden.“ Anschließend spielte er „Chimes of Freedom“ von Bob Dylan.
Vorm Konzert hatte sein Management Springsteens Botschaft an der entscheidenden Stelle diplomatisch geglättet – Springsteen wollte ursprünglich von „Mauern“ statt „Barrieren“ sprechen, doch im sich westwärts selbst eingemauerten Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR war „Mauer“ ein brisantes politisches Reizwort.
Beim Konzert wurden im Publikum USA-Flaggen geschwenkt, die meisten davon offenbar selbstgefertigt. Zu Beginn des Titels „Dancing in the Dark“ holte Bruce Springsteen eine junge Frau aus dem Publikum auf die Bühne – die beiden tanzten und umarmten einander unter begeistertem Beifall des Publikums.
Das Konzert war zeitversetzt im DDR-Sender DT64 zu hören und im zweiten Programm des DDR-Fernsehens zu sehen – dabei war eben jene Ansprache von Springsteen herausgeschnitten. Bei mindestens 160.000 Konzertbesuchern brauchte es nur kurze Zeit, bis sich diese Zensur bis in den letzten Winkel des Landes herumgesprochen hatte – und damit auch das, was staatlich zensiert worden war.
Wirkung
Dem Konzert wird mehrfach ein Einfluss auf den Fall der Mauer 16 Monate später nachgesagt, so etwa 2013 vom US-Amerikaner Erik Kirschbaum in „Rocking the wall: the Berlin concert that changed the world“. Der Historiker Gerd Dietrich meint: „Springsteens Konzert und Ansprache trugen im weiteren Sinne zu den Ereignissen bei, die zum Fall der Mauer führten. Das Konzert begeisterte Menschen für mehr und mehr Veränderung. Es zeigte den Menschen, wie eingeschlossen sie wirklich waren.“
Mit Bezug auf die beim Konzert im Publikum geschwenkten US-Flaggen – das wäre Tage zuvor noch eine der brisantesten und folgenreichsten politischen Provokationen in der DDR gewesen – schrieb der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk 2009: „Dutzende wedelten unübersehbar mit Sternenbannern als Symbol der Freiheit. An diesem 19. Juli 1988 ist es erstmals in der DDR unbehelligt gezeigt worden.“
Drumherum
1986 hatte das DDR-Plattenlabel Amiga Springsteens Album „Born in the U.S.A.“ als Lizenz-Schallplatte mit dem original Cover veröffentlicht – die Scheibe war sofort vergriffen und erzielte auf dem Schwarzmarkt Liebhaberpreise.
Das Konzert verursachte auch den wohl größten Verkehrsstau der DDR-Geschichte – die Heimreise der Menschenmassen war sowohl für den Straßenbahn- und Busverkehr in Berlin, für die Deutsche Reichsbahn als auch für die Auto-Heimfahrer aus Berlin heraus eine absolute Überforderung.
Am 22. Juli 1988 spielte Springsteen mit seiner Band sein nächstes Konzert in Berlin – auf der Westseite jenseits der Mauer auf der Waldbühne.
Zündfunke für 1989
Es heißt, brennende Kerzen und Gebete haben maßgeblich zum Ende der DDR beigetragen. Für Jugendliche und jung gebliebene Leute in der DDR war damals auch Rockmusik von jenseits der Mauer Kraftquell und Mutmacher für das wachsende Aufbegehren. Bruce Springsteen hat mit seinen Songs 1988 in Ostberlin und mit seiner engagierten Ansprache auf Deutsch zweifellos einen der Zündfunken für die Friedliche Revolution im Herbst 1989 geschlagen.
DDR-Staatschef Erich Honecker orakelte am 19. Januar 1989 zum „antifaschistischen Schutzwall“, wie die Mauer im offiziellen DDR-Deutsch genannt wurde: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.“ Jedoch weniger als zehn Monate später, am 9. November 1989, kam der Anfang vom Ende der Mauer: Die Bürger der Landes zerbröselten die am 13. August 1961 erschaffene, tiefgehasste Existenzsicherung der SED-Diktatur und fegten Bauwerk als auch „Arbeiter- und Bauern-Staat“ in kürzester Zeit hinweg. Selten zuvor ist eine Politiker-Aussage derart schnell wie derart gründlich widerlegt worden.
Und heute? Der Staat DDR ist nur noch eine Fußnote oder bestenfalls ein dürres Kapitel in Geschichtsbüchern – und Bruce Springsteen rockt im Alter von fast 74 Jahren mit seiner E-Street-Band nach wie vor die Welt.
Meine Eintrittskarte
Wir waren dabei vor 35 Jahren, meine Freundin Susanne und ich. Irgendwie hatte ich zwei Karten ergattert. Das Konzert ist für mich bis heute der absolute Maßstab: Kein anderes Konzert von Wem-auch-immer konnte es toppen – auch nicht Springsteens gelegentliche Konzerte in Leipzig. Das muss wohl an mir liegen …
Von meiner historischen Eintrittskarte blieb mir eine digitale Kopie. Das Original – viele Jahre als persönlichen Schatz gehütet – habe ich dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig vermacht: In einem Moment der Vernunft – als Dokument für die Nachwelt.
Jedoch gibt es Momente, in denen ich die Karte – trotz oder wegen dieser Vernunft-Entscheidung – schmerzlich vermisse. Dann hilft nur, den inzwischen digitalisierten Mitschnitt dieses legendären Bruce-Springsteen-Konzerts vom 19. Juli 1988 zu starten.
In gepflegter Rockkonzert-Lautstärke, versteht sich.
Quelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bruce-Springsteen-Konzert_1988_in_Ost-Berlin
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)
Foto: Bruce Springsteen beim Konzert in Ostberlin 1988. Thomas Uhlemann, Bundesarchiv-Bild 183-1988-0719-38, CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5424369
Autor:Holger Zürch |
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