Chagall-Ausstellung
Übernatürliche Bildwelten
Das Kunsthaus Apolda zeigt 75 grafische Arbeiten aus dem Spätwerk des französisch-russisch-jüdischen Malers Marc Chagall (1887–1985).
Von Doris Weilandt
Mit wenigen Pinselstrichen sind sie beschrieben: drei Figuren – Akrobaten, Frauen und ein Mischwesen, halb Mensch, halb Tier wie Pan, der Hirtengott. In den Schwüngen ihrer Umrisse liegt eine ganze Welt von Emotionen. Marc Chagall bringt ihnen tiefe Zuneigung entgegen: freundliche Gesten, warme Farben und Poesie, die aus jeder Bewegung spricht. »Die drei Akrobaten« (1957) heißt die Lithografie.
Auch auf dem Blatt »Liebespaar mit Eiffelturm« (1960) findet sich die Formensprache und die Motivik des reifen Künstlers: Auf rotem Grund schweben die Liebenden auf einem Hahn, der einen Blumenstrauß trägt. Dahinter das Wahrzeichen von Paris. Die zarten Figuren werden von einer Melodie getragen, die das gesamte Bild durchdringt. Die chassidisch-jüdische Kultur vereint sich mit der Großstadt zu einer lyrischen Symphonie.
Die beiden farbigen Steindrucke sind Teil der Ausstellung »Marc Chagall. Von Witebsk nach Paris«, die 75 grafische Arbeiten aus dem Spätwerk des Künstlers im Kunsthaus Apolda vereint. Leihgeber der umfangreichen Sammlung ist das Museum Pablo Picasso Münster.
In den 1950er- und 1960er-Jahren erreicht Chagall einen Höhepunkt im druckgrafischen Schaffen. Zusammen mit der Pariser Druckwerkstatt Mourlot, mit der auch Picasso, Matisse, Braque und weitere Künstler arbeiten, entstehen farbintensive Blätter, auf denen er die Schönheit der Stadt besingt.
Chagall wird 1887 in Witebsk im heutigen Weißrussland geboren, einem der größten jüdischen Zentren in Osteuropa. Nach Paris kommt der Künstler erstmals 1911. Maler wie Delacroix oder Courbet regen ihn an. Im Louvre fesselt ihn »das rechte Maß und der Kunstsinn«, den Werke wie die »Olympia« von Édourd Manet ausstrahlen. In der Künstlerkolonie »La Ruche« lernt Chagall Ferdinand Léger, Amedeo Modigliani, Alexander Archipenko und Ossip Zadkin kennen. Er beteiligt sich am »Salon des Indépendants«.
Aus einer kurzen Heimreise nach Witebsk, um seine spätere Frau Bella wiederzusehen, wird wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ein längerer Aufenthalt. 1915 heiratet der Künstler und zieht nach St. Petersburg. Nach der Oktoberrevolution gründet er eine Kunstakademie in Witebsk, an die er El Lissitzky, Nina Kogan, Jehuda Pen und Kasimir Malewitsch als Kunstlehrer beruft. In einer Stellungnahme zur Einweihung schreibt Chagall über »die große Bedeutung der künstlerischen Bildung für das Proletariat und die Notwendigkeit, den Aufschwung der linken Kunst zu fördern«. Nach Auseinandersetzungen mit Malewitsch legt er die Leitung nieder und übersiedelt nach Moskau, um für das Jüdische Theater zu arbeiten.
1922 verlässt er Russland für immer. Nach all seinen Bemühungen um die Bildung einfacher Arbeiter und Waisenkinder sieht Chagall für sich und seine künstlerische Arbeit keine Perspektive. Über Berlin gelangt er mit seiner Familie nach Paris und beginnt dort mit einem großen grafischen Zyklus nach Nicolai Gogols Roman »Die toten Seelen«. Darin zeigt sich sein illustratives Können, sein besonderer Sinn für hintergründigen Humor und kauzige Gestalten, auch seine Verwurzelung in der russischen Kultur.Viele Szenen sind in ungewöhnlicher Perspektive dargestellt. Der Boden ist schwankend, oft schaut der Betrachter von oben in das Geschehen.
Chagall beschäftigt sich in der Folge auch mit den Fabeln von La Fontane und besonders intensiv und über viele Jahre mit der Bibel. »Seit meiner Kindheit hat sie mich mit der Vision des Weltschicksals erfüllt und mich bei meiner Arbeit inspiriert. Wenn ich zweifelte, hat mich ihre Größe und hoch poetische Weisheit beruhigt … Ereignisse im Leben und Kunstwerke sehe ich durch die Weisheit der Bibel«, schreibt Chagall in einem Vorwort für das nach ihm benannte Nationalmuseum in Nizza.
Ein Vorläufer für die im Kunsthaus Apolda gezeigten Werke ist die erste Folge von Farblithografien, die unter dem Titel »Arabische Nächte« erschien. Die meisten Motive sind aus den Radierzyklen bekannt, doch die Farbe versetzt die Kompositionen in eine märchenhafte Welt, entrückt sie dem Realen und zeitlich Verortbaren. Die Figuren tauchen in den atmosphärisch dichten Bildraum, den er schafft.
Auf dem abgebildeten Blatt der »Ansichten von Paris« (1960) wird der Blick von der weiblichen Figur und dem Kind im linken Bildrand angezogen. In magisches Rot gehüllt, lagern sie vor der Kulisse von Paris mit typischen Kennzeichen wie den Brücken über die Seine, im Hintergrund Notre Dame. Ein Liebespaar schwebt über der von einem kalten Mond beschienenen Szenerie. Rechts ein Gekreuzigter. Chagall bezieht religiöse Geschichten in seine Stadtlandschaften ein.
Der Dichter Guillaume Apollinaire bezeichnete Chagalls Kunst als »übernatürlich«. Auch wenn darin einige Übertreibung steckt, Chagall ist es trotz Revolution und Exil infolge zweier Weltkriege gelungen, an sich zu glauben und neue Bildwelten zu schaffen, denen sich niemand entziehen kann. Aus seiner Heimat Witebsk brachte er über den Dächern schwebende Liebespaare, Rabbiner und Händler mit nach Paris. Von den Fesseln der Schwerkraft befreit er auch in der großen Stadt alle die, die noch träumen können.
Ausstellung »Marc Chagall. Von Witebsk nach Paris« vom 20. 9. bis 13. 12. im Kunsthaus Apolda.
kunsthausapolda.de
Autor:Online-Redaktion |
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