Musikalische Quellen aus Europa
Zusammenklang von Vergangenheit und Zukunft
Es ist die bereits dritte CD, die das 2003 gegründete Ensemble "Nu:n" beim Label Raumklang (Schloss Goseck) herausgebracht hat. Zur Wahl ihres eigentümlichen Namens hat die Musiker um den Gitarristen und Komponisten Falk Zenker der spätmittelalterliche Theologe Meister Eckart (1260–1327) inspiriert, der im mystischen Sinne das »Nun« als einen Moment beschreibt, »in dem Vergangenheit und Zukunft im Hier und Jetzt miteinander verschmelzen – alle Zeit im Augenblick«. Cora Schmeister (Gesang), Gert Anklam (Sopran- und Baritonsaxophon) und Falk Zenker (Akustik- und E-Gitarre, Live-Looping, Obertonschläuche und Geräuschinstrumente) sind begnadete Interpreten, die sich den musikalischen Vorlagen aus fernen Zeiten mit großer Sensibilität nähern. Sie lauschen in sie hinein und spinnen die thematischen Impulse quasi improvisierend weiter. Die Klang-Welt, die dabei zur Entfaltung kommt, entspricht der Sehnsucht vieler kirchenferner Hörer nach etwas »Heiligem«, das zur Besinnung und Meditation anregt.
Dem Anliegen des Ensembles kommt entgegen, das auf dieser CD Konzertmitschnitte vereinigt sind, die atmosphärisch viel besser rüberkommen, als eine nüchterne Studioproduktion – bis hin zur Akustik der Aufführungsorte. Nach »Salutare« mit gregorianischen Chorälen und Gesängen der Hildegard von Bingen und »Estampie« mit höfischen Tänzen aus dem französischen »Manuscript du Roi« greift die neue CD den Titel eines Minneliedes von Heinrich von Veldecke (ca. 1150–ca. 1190) auf: »Manigem herzen tet der kalte winter leide«: »Manchem Herzen tut der kalte Winter Leid« an.
Alle Texte sind im Wortlaut abgedruckt und ins heutige Deutsch übertragen. Das macht es leicht, sich in ihre Aussage zu versenken. Die Musik trägt sie in ehrfurchtsvoller Weise. Es ist beeindruckend, in einer heutigen Interpretation das »O choruscans lux stellarum« der Hildegard von Bingen (1098–1179) zu erleben, die mit ihrer einzigartigen Sprache und Melodik die Jungfrau Maria in ein glanzvolles Licht taucht: »O blitzensdes Licht der Sterne«. Nur Luftgeräusche von Baritonsaxophon und Obertonschläuchen umweben den frühchristlichen Hymnus »Conditor alme siderum« (»Erhabener Schöpfer der Gestirne«), der aus dem siebenten Jahrhundert stammt. In vielfältiger Herangehensweise erhalten die mittelalterlichen Quellen ein neues Gewand.
Das vermutlich älteste deutschsprachige Weihnachtslied krönt die zehn Titel umfassende CD: »Seys willekommen, heire kerst«, das um 1394 in Aachen entstanden sein soll und kurze Zeit danach auf eine leere Seite der »Bibliotheca Ampolonia« der Erfurter Universität gekritzelt wurde. Gotische Dreistimmigkeit, deren Herbheit einen besonderen Charme hat.
Michael von Hintzenstern
Ensemble "Nu:n": »manigem herzen«, Edition Raumklang, RK 3901, 17,90 Euro
Autor:Online-Redaktion |
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