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Predigttext zum Sonntag
Der Mensch im Blick

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Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Johannes 9, Verse 1 + 2

Dass es in der Welt hell wird, ist nicht nur eine Frage des Sonnenaufgangs. Dass die Dunkelheit weicht, dazu braucht es mehr. Bezeichnenderweise beginnt der Bericht von der Heilung eines Blinden mit einem aufmerksamen Sehen: „Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.“
Der Blinde sieht Jesus nicht, aber Jesus sieht ihn. Das wirft auch ein Licht auf uns. Bevor wir Jesus erkannten, hat er uns gesehen. Und wir dürfen getrost dieses „Sehen Jesu“ etwas tiefer verstehen: Das Sehen Jesu, sein Wahrnehmen, Verstehen, Begreifen ist der Blick der Liebe. Liebe trifft Not. Das Licht stößt auf eine Finsternis.
Neben dem Blick Jesu gibt es auch den Blick der Jünger. Sie folgen Jesu Blick und nehmen so auch den Blinden wahr – aber nicht mit einem liebenden Blick. Dieses Licht wohnt noch nicht in ihnen. Sie haben keinen Durchblick, sehen nicht klar, besser: Sie sehen gar nicht.

Ihre Frage offenbart nicht nur schlechte Erziehung, dass sie in Gegenwart des Blinden über sein Elend und seine Schuld debattieren. Ihre Frage zeigt vor allem, dass sie nichts begriffen haben. Sagen wir vorsichtig – dass sie blind sind. So hört sie der Blindgeborene reden: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Wer so fragt, ist selber blind.

Blind, weil er Sünden im Leben anderer sucht, statt bei sich zu bleiben. Blind ist auch, wer nicht sieht, dass es keinem Menschen zusteht, die Schuld anderer abzuwägen. Blind ist, wer Krankheit nur als Strafe sieht. Strafe für Schuld – weit gebracht haben wir es mit diesem Denken! Jesus weist eine Diskussion über Schuld und Sühne ab, weil die Frage der Vergeltung den Blick bannt, blind macht.
Eben weil die Jünger Krankheit als Strafe deuten, sehen sie vor sich nicht einen Menschen, sondern einen Problemfall und fragen: Wer ist schuld? Nicht der Mensch, sondern ein Problem steht so in der Mitte der Aufmerksamkeit. Nun gibt es aber nicht nur das Problem der Behinderung. Es sind Menschen, die mit Einschränkungen leben müssen. Wir begegnen Menschen, nicht Problemen. Darüber sollen uns die Augen aufgehen.

Michael Nicolaus, Pfarrer der Kirchen-gemeinden Oßling und Großgrabe | Foto: Foto: privat
Autor:

Online-Redaktion

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