Wort zur Woche
Dieses Virus darf sich gern ausbreiten
Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
1. Johannes 4, Vers 21
Ein merkwürdiger Fremder namens Jeschua spaziert durch Berlin. Er infiziert jeden, der ihm begegnet, mit Liebe. Ein aggressiv schimpfender Junge wird ruhig, eine Immobilienmaklerin nimmt kein Bestechungsgeld mehr, und ein gefürchteter Literaturkritiker bemüht sich plötzlich um eine faire Bewertung. Die Umsätze der Blumenhändler steigen, die Menschen lächeln einander in der U-Bahn zu. Die Liebe breitet sich exponentiell aus, die Inzidenz ist erfreulich hoch. Jeder Mensch steckt mindestens zwei weitere an.
Wer Jeschua ist, ist in Michael Kumpfmüllers neuem Roman „Mischa und der Meister“ offenkundig. Er geht durch die Zeiten, die Liebes-Pandemie kann jederzeit überall ausbrechen. Er geht durch das Moskau der 1930er-Jahre mit seinen verrückten Künstlern, seinen utopischen Hoffnungen und seinem stalinistischen Terror.
Natürlich ist Kumpfmüllers Buch eine große Verbeugung vor Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ – für mich einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Auch im Berlin des Jahres 2021 können Katzen sprechen, und gleich mehrere Mephisto-Gestalten samt Pudel tauchen auf.
Klar ist: Es gibt Kräfte, die das Liebes-Virus eindämmen wollen. Mit harten Maßnahmen kämpfen sie gegen die Ausbreitung der Seuche. Jede möge bitte schön in ihrer Ego-Quarantäne bleiben.
Die Hauptfigur Mischa in Kumpfmüllers Roman ist ein junger russischstämmiger Student, dessen Eltern vor fünf Jahren nach Nowosibirsk zurückgekehrt sind. Vermutlich glauben sie ihm nicht, was er ihnen am Telefon über die „Spezialoperation“ in der Ukraine erzählt. Als Jeschua im Berlin des Jahres 2021 gefragt wird, ob er die Menschen liebe, antwortet er nachdenklich: „Es ist schwer – aber immer den Versuch wert, es zu tun.“ Ich finde diese Nüchternheit erfrischend. Das Gebot, die Menschengeschwister zu lieben, beruht nicht auf Gefühlsduselei. Es ist schwer – aber immer den Versuch wert.
Pfarrer André Demut, Evangelisches Büro, Erfurt
Autor:Online-Redaktion |
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