Feigheit vor dem Feind
Tatsache: Das achte Gebot ermahnt uns, nicht falsch Zeugnis wider unseren Nächsten zu reden, und dennoch gehört die Lüge zu unserem Leben.
Von Hans Jürgen Luibl
Wie findest du mein neues Kleid? Es steht mir doch gut, oder?« Er zögert einen Moment. Nein, denkt er, nein, das steht ihr eigentlich nicht. Er sieht das Kleid, er sieht ihr erwartungsvolles Gesicht. »Ja«, sagt er. Da hat der Mann im Religionsunterricht wohl nicht gut aufgepasst. »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«, im Volksmund zur Lebensregel verkürzt im Satz: »Du sollst nicht lügen.«
Laut englischen Experten lügt der Mensch durchschnittlich rund 200 Mal pro Tag, amerikanische Experten kamen nur auf 50 Mal. In Europa lügt man mehr, in Amerika weniger. Oder: In Europa steht man dazu, im puritanischen Amerika lügt man mehr über die eigene Lüge? Frauen, so eine andere Untersuchung, lügen eher zum Schutz und Trost des anderen, um zu motivieren; Männer eher, um gut dazustehen.
Seit den Tagen des Kirchenvaters Augustinus gibt es eine große Diskussion um die Lüge und vor allem die Grenzfälle des Lügens, die Notlüge. Allein in den Jahren 1880 bis 1970 sind 115 Schriften zur Frage der Notlüge erschienen. Zwei Sorten von Notlügen fallen besonders auf: Notlügen, um ein gutes Ziel zu erreichen, und Notlügen, um des anderen Menschen willen.
Erstere Lüge hat eine lange Geschichte. Im 16. Jahrhundert schreibt der Jesuit Thomas Sanchez: »Es ist erlaubt, zweideutige Ausdrücke zu gebrauchen, um sie anders verstehen zu lassen, als man sie selbst versteht … Das ist bei vielen Gelegenheiten überaus bequem und allemal gerecht, wenn es zur Erhaltung der Gesundheit, der Ehre oder des Vermögens nötig ist.«
Das klingt einleuchtend, in der Wirklichkeit aber ist es schmerzvoll. »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.« Das sagte Walter Ulbricht am 15. Juni 1961, dann wurde die Mauer, die bereits geplant war, gebaut. Die Lüge war – aus Ulbrichts Sicht – eine Notlüge zur Beruhigung der Bevölkerung.
Wie aber ist es, wenn es nicht um Ziele geht, sondern um Menschen? Ist eine Notlüge vielleicht sogar geboten, um einen anderen zu schützen? Nein, sagt der Philosoph Immanuel Kant. Die Wahrheit steht nicht im Belieben der Menschen. Wer sie begrenzt, vernichtet die Grundlagen des gemeinsamen Lebens. Dann ist auf nichts mehr Verlass.
Kant: Wer um eines Menschen willen lügt, der übernimmt die Verantwortung für dessen Leben, der nimmt die Freiheit zur eigenen Entscheidung. Verantwortung und Freiheit für das eigene Leben kann aber niemand einem anderen abnehmen. Aber es gibt auch eine Verantwortung für das Leben des anderen. In der Liebe übernimmt der Mensch Verantwortung für den anderen. Wahrheit vollendet sich in der Liebe.
Das bedeutet umgekehrt, dass die Liebe die Wahrheit sucht. Die Liebe leidet an der Lüge, aber hat Freude an der Wahrheit (1. Korinther 13). Ob eine Notlüge berechtigt ist, das entscheidet am Ende die Liebe. Damit ist eine Grundspannung gegeben: Denn auch ein Notlüge bleibt Lüge, Verletzung der Beziehung. Diese Spannung wird in einer Umfrage deutlich, auf welche die Psychologin Doris Wolf verweist: 73 Prozent aller Deutschen sind der Meinung, dass es Situationen gibt, in denen man lügen muss – aus Höflichkeit, Rücksicht, Mitleid, Liebe. Im Widerspruch dazu steht, dass 74 Prozent sich tief verletzt fühlen, wenn sie herausfinden, dass sie belogen wurden.
Es gehört zur Wahrheit über unser Leben, dass die Lüge darin ihren Platz hat. Das hebt das Verbot der Lüge nicht auf, sondern setzt es in Kraft. Der Kampf gegen die Lüge kann dann beginnen.
Und die Notlüge? In ihr geht es um die Wahrung einer Beziehung, um die innere Wahrhaftigkeit, der treu zu bleiben eine äußere Unwahrhaftigkeit nach sich ziehen kann und deren Konsequenzen ertragen werden müssen. Das ist kein Freibrief für hemmungslose Vorteilsnahme oder Feigheit vor dem Freund, sondern ein Einüben des mühsamen Geschäfts von Freiheit und Verantwortung in den Notlagen des Lebens.
Der Autor ist Leiter der Evangelischen Stadtakademie Erlangen und unterrichtet am Lehrstuhl für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Autor:Online-Redaktion |
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