Predigttext
Grautöne aufnehmen
Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen:Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.Johannes 8, Vers 7
Aktuell nehme ich in unglaublich vielen Debatten unserer Zeit Extrempositionen wahr. Egal, worum es geht – da scheint es schwarz/weiß zu geben, und die Menschen positionieren sich dann. Keine Grautöne mehr. Keine Differenziertheit. „Ich habe Recht und du hast Unrecht.“
Von Jennifer Scherf
Dass die meisten Themen unserer Zeit Dilemmata sind, scheint ignoriert zu werden. Da gibt es manchmal nicht mehr „richtig“ und „falsch“, sondern ein Abwägen. Im christlichen Kontext vor allem ein ethisches Abwägen. Und doch wird oft lieber laut geschrien, und wenn man etwas Falsches sagt, gibt es von der jeweils anderen Seite einen auf den Deckel. Wir stellen uns ständig an den Pranger, anstatt voneinander zu lernen, miteinander gnädig zu sein und in Klarheit die Schwierigkeiten der Diskurse zu bewegen und zu bereden.
Der heutige Sonntag steht ganz im Zeichen von „Du sollst nicht urteilen“ und nimmt die Brüchigkeit von Wahrheit und Recht ins Visier. Die Frau, die hier gesteinigt werden soll, hat nach damaligem jüdischen Recht gesündigt. Sie hat (so wird behauptet) die Ehe gebrochen. Und die Strafe ist nun per Gesetz die Steinigung dieser Frau. Die geistliche Obrigkeit verhält sich hier vermeintlich rechtstreu. Toratreu. Wir würden heute sagen „bibeltreu“: Steht doch da . Also alles ganz klar.
– Hm. Und dann kommt dieser wunderbare jesuanische Moment. Der Grund, weshalb ich meinen Gott und meinen Glauben so liebe. Nee, ist nicht alles klar! Wir sind nämlich keine Richterinnen und Richter übereinander. Wir sind Geschwister. Und in einem absolut ähnlich: Wir irren alle regelmäßig. Wir machen alle mal Fehler, größere und kleinere. Wir sehen oft nicht das große Ganze, sondern harren aus in Gesetzlichkeit, Schwarz-Weiß-Denken und vergessen darüber manchmal das wichtigste Gebot (übrigens nicht erst neutestamentlich!) "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" – 3. Mose 19, Vers 18.
Ein bisschen weniger Schuldzuweisung und übereinander Urteilen steht uns also gut an in der Nachfolge Jesu. Vielleicht mal die Grautöne aufnehmen. Eigene Standpunkte und Meinungen hinterfragen. Weder rechtstreu, noch bibeltreu. Einfach menschentreu. Jesustreu halt.
Die Autorin ist Pfarrerin der Online-Kirche der EKM.
Autor:Online-Redaktion |
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