Wort zur Woche
Nutella und der Geschmack von Sehnsucht und Hoffnung
Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Psalm 145, Vers 15
Nutella gab’s bei uns nicht, so erzählt mir Ingrid aus Magdeburg. Wir hatten kein Westgeld, und dafür schon gar nicht. Und Klamotten, natürlich getragene, bekamen wir einmal im Jahr im Westpaket mit Kaffee und Schokolade. Das war besser als nichts. Nein, hungern mussten wir nicht. Aber beim Blick in den Quelle-Katalog liefen uns immer die Augen über. Doch dafür in den Westen gehen? Nein, ich hatte hier meine Eltern, und es ging uns ja nicht schlecht. Aber als sie meinem Sohn die Bücher an der Grenze abgenommen haben, die er in Prag gekauft hatte, da wollte er weg. Es gibt doch bei uns auch reichlich Bücher, hab’ ich ihm entgegengehalten. Doch er winkte nur ab. Später erst verstand ich, wonach ihn hungerte.
Gedanken nicht nur im Kopf rumtragen, sondern lesen, aussprechen wollte er sie. Nutella war bestimmt das Letzte, wofür er damals im Oktober auf die Straße ging und sich verhaften ließ. Ziemlich ramponiert kam er nach der Verhör-Nacht bei mir an. In der Kirche war er dann jeden Montag. Ich ging dann auch mal mit. Da habe ich sie gesehen, die Unzähligen im Dom. Sie hatten Sehnsucht nach Freiheit, waren regelrecht ausgehungert. Sie sangen und beteten zu Gott.
Mit ein paar Leuten habe ich damals nach dem Friedensgebet noch gegessen und Wein getrunken. Da haben sie diesen Psalmvers nach Heinrich Schütz gesungen. Ich glaube, sie meinten damit auch, dass Gott nicht nur das Schreien nach Brot hört, sondern ebenso das nach Freiheit und Gerechtigkeit. Mit den Freunden von damals bin ich manchmal noch zusammen. Und dann singen wir vierstimmig: „Aller Augen warten auf dich, Herre, und du gibest ihnen ihre Speise zu seiner Zeit, du tust deine milde Hand auf und sättigest alles was da lebet, mit Wohlgefallen. Amen.“ – Immer, wenn wir es singen, habe ich den Geschmack von Sehnsucht und Hoffnung wie einst auf der Zunge. So möchte ich mit Ingrid einstimmen in den Gesang. Auch heute warten viele Augen auf Gott. Die ganze Welt hungert noch immer nach Gerechtigkeit, ohne die kein Frieden wird.
Pfarrer Matthias Simon, Haldensleben
Autor:Online-Redaktion |
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