Zeit und Raum für die Klage
Experiment: Kirchen sollten sich in der Pandemie nicht mit tröstenden Antworten überbieten, sondern Raum für Klage eröffnen. Aus dieser Überlegung entstand ein Gottesdienstformat.
Von Karin Wollschläger und Daniel Heinze
Die Kirche will in diesen Pandemie-Zeiten Trost und Kraft geben. Aber eröffnet sie auch Raum, individuelle Klagen vorzubringen und einfach miteinander auszuhalten? In Leipzig entsteht aus diesem Gedanken derzeit ein neues liturgisches Format: die "Klagezeit", ein ökumenischer Gottesdienst, der ausdrücklich nicht sofort Trost spenden und Hoffnung geben will. Es soll vielmehr darum gehen, das Klagen als Wert an sich zu verstehen.
In der katholischen Propsteikirche stapeln sich vor dem Altar rötliche Bauziegel. In deren Hohlräumen stecken Zettelchen. Menschen haben darauf ihre Nöte und Sorgen geschrieben und sie in die "Klagewand" gesteckt. Ebenso in der evangelischen Peterskirche wenige hundert Meter entfernt.
Das Ritual lässt an die Klagemauer in Jerusalem und die jüdische Tradition denken. Im wöchentlichen Wechsel findet in beiden Kirchen derzeit immer freitags ab 17 Uhr eine "Klagezeit" statt, per Livestream kann jeder daran teilnehmen und im Chat eigene Klagen einbringen.
"Nach meinem Eindruck fehlen in diesen Wochen rituell getragene Gelegenheiten zum Aussprechen von Not, die jetzt so vielfältig ist. Raum für das Zulassen der Gefühle von Ärger und Erschöpfung und Angst und Trauer über das vergangene Jahr und das, was noch kommt", sagt die Mit-Initiatorin Kerstin Menzel vom Institut für praktische Theologie der Universität Leipzig. Ihr Appell: "Lasst uns dem Klagen wieder mehr Platz einräumen."
In der Seelsorge gehe es darum, "das Schwere der Wirklichkeit nicht zu überspringen". In der Einzelseelsorge funktioniere das ganz gut, so Propst Gregor Giele, aber im normalen Gottesdienst sei eigentlich kaum Raum für Klage, für miteinander auszuhaltendes Schweigen. Die Kirche fühle sich vielfach unter dem Druck, Antworten geben zu müssen: "Möglichst auch innerweltliche Antworten – denn ein Trösten und Vertrösten auf eine Erlösung im Jenseits kommt, glaub ich, gar nicht mehr gut an", so der katholische Geistliche. Aber zur Klage gehöre auch das Schweigen: "Im Sinne von Verstummen, weil ich nicht mehr weiß, was ich sagen kann."
Die sehr meditativ gestaltete Leipziger "Klagezeit" soll dafür ein Ort sein, auch zum neuen Einüben eines gemeinsamen Aus- und Offenhaltens von schwierigen Situationen, deren Ende eben nicht absehbar ist, wie gerade in der Pandemie. Menzel beobachtet, dass gegenwärtig zwar schon viele Menschen sagen, was für sie in der Corona-Krise schwer ist, aber meist mit dem rasch nachgeschobenen Zusatz, es sei ja immer noch Jammern auf hohem Niveau.
"Das finde ich schwierig. Ich verstehe, dass man es einordnen möchte, dass es auch Schlimmeres gibt. Das ist auch wichtig. Zugleich denke ich: Nehmt euch selbst ernst! Es ist erstmal für jeden individuell schwer. Das anzuerkennen, hilft schon", so die Theologin. Aber wann hört Klage auf und fängt Jammern an? Giele weiß da klar zu unterscheiden: "Klagen ist das Benennen einer unguten Situation, von der ich nicht weiß, wie lange sie noch dauert und wie es ausgeht. Jammern ist Klage, die aber sofort mit dem negativen Ausgang der unklaren Situation rechnet."
Schon in der Bibel finden sich – etwa bei Hiob – Geschichten vom gemeinsamen Klagen. Der Volksmund hat dafür die Wendung "Geteiltes Leid ist halbes Leid" parat. Kerstin Menzel formuliert es so: "In dem Moment, wo man das Leiden und Schwere miteinander trägt, hat sich das auch schon etwas verwandelt."
In den "Klagezeit"-Gottesdiensten erzählen immer zwei Menschen, wo sie in ihrem Corona-Alltag Grund zur Klage haben. Hier kommt die Lehrerin ebenso zu Wort wie der freischaffende Künstler, der Krankenpfleger, die Sozialpädagogin oder der Lieferdienst-Bote. Danach folgt eine mehrminütige Stille. Eine Stille, die mitunter schwer auszuhalten ist, etwa nach dem bewegenden Bericht einer jungen Frau über das Sterben ihres Partners.
Bis Ostern heißt es in den beiden Leipziger Kirchen noch: "Und freitags geh ich klagen." Auf der Homepage gibt es weitere Impulse und die Möglichkeit, online Klagen zu formulieren, die dann im Gottesdienst in die Klagewand gesteckt werden. (kna)
Autor:Online-Redaktion |
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