Christen in der DDR
"Ich wünschte mir eine Greta Thunberg für unsere Kirche"
Christen in der DDR: Gerhard Jahreis ist Ernährungsphysiologe und Christ. Ein Gespräch über Glaube und Wissenschaft, den Herbst 1989 in Jena und die Zukunft der Kirche.
Von Beatrix Heinrichs
Die Luft ist noch kalt, aber der Frühling spannt schon sein Band über die Hügelketten, die Anhöhen der Kernberge und des Jenzigs. Dazwischen liegt Jenaprießnitz. Hier ist Gerhard Jahreis zu Hause. Von der Natur und dem, was sie im Innersten zusammenhält kann er erzählen – mit einer Begeisterung und einem Staunen, das ansteckend wirkt. Gerhard Jahreis ist 70, Ernährungsphysiologe und Christ.
In Jena ist Jahreis kein Unbekannter. Ab 1996 war er Lehrstuhlinhaber am Institut für Ernährungswissenschaften an der Universität. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Jenaer Kirchbauvereins, setzt sich für den Erhalt der mittelalterlichen Wallfahrtskirche in Ziegenhain ein und engagiert sich in der Gemeinde am Lutherhaus. Wenn er aus seinem Leben berichtet, den Kinderjahren im Sperrgebiet im Thüringer Vogtland und der Jenaer Zeit an der Uni und in der Kinderklinik, dann ist es eine Erzählung, in der Glaube und Wissenschaft zusammengehen. Eine, in der das eine ohne das andere für Jahreis nicht wäre, wie es ist – aber dazu später.
Zwischen Angst und Vertrauen: Eine Kindheit im Sperrgebiet
Aufgewachsen ist Gerhard Jahreis in der Region um Tanna, dort wo man, wie er sagt, den christlichen Glauben mit der Muttermilch aufsaugt. Die Kindheit im Grenzgebiet war prägend. Besonders lebendig die Erinnerung an das Jahr 1952, als die DDR begann, mit der „Aktion Ungeziefer“ politisch „unzuverlässige“ Personen aus dem Sperrgebiet zwangsumzusiedeln. „Da fehlten plötzlich Kinder in der Klasse. Wir sind mit der Angst aufgewachsen, dass ein falsches Wort genügen könnte und wir würden nach Sibirien kommen.“ Jahreis berichtet von seiner Cousine, die mit den Eltern in Mödlareuth in der Mühle lebte. Sie seien der Zwangsumsiedlung entgangen - mit einem beherzten Sprung aus dem Fenster und der Flucht über den Tannbach.
„Menschen brauchen ein Geländer fürs Leben. Ein Stock genügt da nicht"
Wer blieb, habe in einer seltsamen Isolation gelebt, sagt Jahreis, eine in der man lernte, keinem Menschen außerhalb der eigenen Familie zu vertrauen. „Mit einer Ausnahme“, merkt er an und hält kurz inne. „Unser Pfarrer. Er kam aus Wansleben und hatte sich ganz bewusst für den Dienst im Sperrgebiet entschieden.“ Das beeindruckt Jahreis noch heute. „Menschen brauchen ein Geländer fürs Leben. Ein Stock genügt da nicht.“ Gutmenschentum überzeugt ihn nicht, Haltung im Glauben schon eher.
Glaube trifft Wissenschaft
Als Christ sei er zu DDR-Zeiten freilich angeeckt. Zum Beispiel als er sich weigerte in einem Aufsatz die Existenz Gottes zu widerlegen und damit riskierte von der Schule zu fliegen. Oder später, als seine Stelle an der Uni aufgrund seiner Konfession nicht verlängert wurde. „Ich hatte Glück, es hat sich immer alles gefügt.“ Seinen Glauben habe er nie verleugnet. „Ich halte es mit Dostojewski,“ sagt der Mann, der schon zwei Mal den Krebs besiegte und dessen Frau vor 16 Jahren verstarb: „Habe dein Schicksal lieb, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele.“
"Diese Welt ist so genial. Als Ernährungsbiologe kann ich gar nicht anders als daran glauben, dass es einen Schöpfer geben muss"
Ein großes Wort, überflüssig da fast die Frage, ob er jemals gezweifelt habe. Gerhard Jahreis überlegt, kurz und ernsthaft – und antwortet entschieden: „Nein. Diese Welt ist so genial. Als Ernährungsbiologe kann ich gar nicht anders als daran glauben, dass es einen Schöpfer geben muss, dass all das nicht einfach so entstanden sein kann.“ Und dann ist der Träger des Bundesverdienstkreuzes ganz in seinem Thema. Er erzählt von dieser Genialität, davon dass es für das Leben nur drei Elemente braucht: Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Mit den Händen greift er die Elemente aus der Luft, schiebt den Untersetzer der Teekanne auf dem Esstisch hin und her, zeichnet mit einer Handbewegung eine Membran darum, erklärt, wie Fette entstehen. Die kleine Zelle im großen Weltgefüge – sie kann einen Unterschied machen. Wie im Herbst 1989.
Mit den Kindern zur Demo
Zu den Friedensgebeten in der Stadtkirche kamen zwischen 2000 und 3000 Menschen. Auch Gerhard Jahreis war mit seiner Frau dabei. Bald habe man sich entschieden auch die Kinder mitzunehmen. „An eine Wiedervereinigung hatte kleiner von uns im Traum gedacht, aber wir haben gespürt, da passiert etwas und zu den Kindern gesagt: Da müsst ihr mit, davon könnt ihr noch euren Enkeln erzählen.“
"Wenn es so weiter gegangen wäre, hätten wir uns ausgeräuchert"
In Erinnerung geblieben sind ihm das mulmige Gefühl, die Ungewissheit, was passieren würde, wenn sie aus der Kirchentür heraustraten. Und die Kerzen vor dem Stasi-Gebäude in der Gerbergasse, das Bild vom Lichtermeer vor den dunklen Fenstern.
„Gravierender als das Eingesperrtsein, die politischen Fragen, waren für mich die Umweltprobleme in der DDR“, sagt Jahreis. „1983 konnten wir beobachten, dass 50 Prozent aller pubertierenden Kinder im Alter zwischen 12 und 16 Jahren ein Struma hatten, eine vergrößerte Schilddrüse. Heute sind es gerade einmal zwei Prozent. Die miserable Jodversorgung, das Nitrat im Trinkwasser, der blaue Dunst in den Straßen. Wenn es so weiter gegangen wäre, hätten wir uns ausgeräuchert wie die Ratten.“
Veränderung braucht Mut
Damals habe die Jugend Veränderung gefordert, sei mutig auf die Straße gegangen. Ganz ähnlich, wie heute die „Fridays for Future“-Bewegung. „Ich wünschte mir auch für unsere Kirche eine Greta Thunberg“, sagt er und ein verschmitztes Bubenlächeln huscht über seine Lippen. „Unsere Kirche ist nicht reformbereit, an die großen Themen wagt sie sich nicht heran. Mit ihrer Strukturplanung werden ganze Landstriche aufgegeben.“ Ehrenamtliche könnten nicht die Lösung des Problems sein, vor allem da nicht, wo Vakanzen schon bestünden.
"Als Christen haben wir den Auftrag unseren Glauben weiterzugeben. Alles andere ist Raubbau an der Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder"
Was man bräuchte, wären Gemeindeaufbauhelfer, Menschen die andere mitreißen und begeistern können mit ihrem Glauben. Die Gemeindeverbände seien seiner Meinung nach heute viel zu groß, und in den Dörfern, wo Sonntags noch Gottesdienst stattfinde, säßen nur zwei oder drei ältere Damen in der Kirche. „Wir müssen auch die jungen Leute ansprechen, die Familien mitnehmen.“ Mit seiner zweiten Frau hat Jahreis einen achtjährigen Sohn, er weiß, wovon er spricht. Der Förderverein der Gemeinde am Lutherhaus, in dem sich Jahreis seit der Gründung vor 20 Jahren engagiert, trägt heute gut die Hälfte der gesamten Personalkosten der Gemeinde. Etwa 200 Gemeindemitglieder sind hier ehrenamtlich aktiv, kümmern sich zum Beispiel um die Vorbereitung der Kindergottesdienste. „Gemeinde wächst nur, wenn die Kinder betreut sind.“ Er schiebt den Untersetzer der Teekanne zurück auf seinen Platz und setzt sich aufrecht. „Als Christen haben wir den Auftrag unseren Glauben weiterzugeben. Alles andere ist Raubbau an der Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder.“
Autor:Beatrix Heinrichs |
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