Gedenken
Um vier kamen die Lkw
Vor 70 Jahren: Ungeziefer möchte niemand in seiner Nähe haben. Der DDR-Staatssicherheit erschien dies als ein passender Tarnname für eine perfide Maßnahme an der innerdeutschen Grenze.
Von Uta Schäfer
Saftiges Grün und blühende Gehölze wetteifern mit dem leuchtenden Gelb der Rapsfelder. Der Spätfrühling hat die Landschaft südlich des Rennsteiges mit ihren dichten Wäldern und offenen Fluren, den sanften Hügeln und den malerischen Dörfern in ein Paradies verwandelt. Das wird vor 70 Jahren ähnlich gewesen sein. Damals, als Menschen gewaltsam an der Nahtstelle zweier politischer Systeme aus dieser, ihrer Heimat vertrieben wurden. Jenem traurigen und schockierenden Thema widmet sich eine Sonderausstellung im „Zweiländermuseum Rodachtal“ in Streufdorf.
Was für ein großartiges Ensemble: die mittelalterliche Kirchwehranlage auf einem Hügel mitten im Dorf. Man möchte meinen, es hätte keinen besseren Ort für ein Museum geben können. „Diese Nutzung war zugleich auch eine Chance für die Restaurierung der Kemenaten, die den besonderen Reiz der Burg ausmachen“, sagt Horst Gärtner. Er ergriff damals die Initiative, als er 1990 Bürgermeister der Gemeinde Straufhain wurde, deren Verwaltungssitz Streufdorf ist. Auch nach seiner Pensionierung ist er als Vorsitzender des Fördervereins „Zweiländermuseum Rodachtal“ und als Botschafter der Initiative Rodachtal aktiv. 2009 konnte das Museum eingeweiht werden. Es ist kein Grenzmuseum und keine Heimatstube im üblichen Sinne. Hier wurde ein Regionalmuseum gestaltet, das die vergangenen 100 Jahre Ortsgeschichte auf Thüringer wie auf bayrischer Seite erlebbar macht und in den weltpolitischen Kontext einordnet. Neben der Dauerausstellung widmen sich Sonderausstellungen besonderen Ereignissen, gegenwärtig „Sperrgebiet und die Barrikaden von Streufdorf – 70 Jahre Aktion Ungeziefer“.
Freundlich empfängt Museumsleiterin Sybille Knopf die Besucher und weiß viel zu erzählen. Sie stammt aus Hellingen, das heute zur Stadt Heldburg gehört und ebenfalls im einstigen Sperrgebiet lag. „Ich wurde in diese Gegebenheiten hineingeboren und kannte es nicht anders. Nach der Schulzeit arbeitete ich wie viele andere in Hildburghausen. Morgens kam der Bus, sammelte alle ein, Kontrolle am Schlagbaum, und bei der Rückfahrt das Gleiche. Ein anderes Leben hier gab es nur in Erzählungen der Älteren im vertrauten Kreis“, so die Kirchenälteste.
Augenzeugenberichte, staatliche Dokumente, Fotos und Videos lassen erahnen, welches Leid die Zwangsaussiedlungen am 5. Mai 1952 über die Menschen hier und generell entlang der Grenze zur Bundesrepublik brachte: Morgens um 4 Uhr holten Polizisten die Menschen aus dem Schlaf, um ihnen mitzuteilen, dass sie binnen zwei Stunden ihre Häuser und Gehöfte zu verlassen hätten, Ziel unbekannt. Das Notwendigste sollte auf Lkw geladen werden. Im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ wurden „Personen, die nicht den Anforderungen unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung entsprechen“, wie es in einem Protokoll der SED-Kreisleitung heißt, wegtransportiert. Allein in Thüringen mit seiner 750 Kilometer langen Grenze betraf dies mehr als 3500 Menschen – so viele wie nirgendwo.
Die Streufdorfer wollten dieses Unrecht nicht hinnehmen, solidarisierten sich mit den Betroffenen, bauten Barrikaden, läuteten mit den Kirchenglocken Sturm und entluden die Lkw wieder. Durch brutale Gewalt der berittenen Polizei, unterstützt durch Wasserwerfer sowie Staatssicherheit wurde die Gegenwehr in der Mittagszeit gebrochen und noch mehr Menschen verhaftet, darunter auch der damalige Bürgermeister Fritz Pfeifer. Viele entzogen sich der staatlichen Willkür durch Flucht in den Westen, andere versuchten, sich in die neue Umgebung zu integrieren. Auch das war schwer, da sie dort als Kriminelle angekündigt worden waren.
„In Streufdorf wurde etwa die Hälfe der Bevölkerung ausgesiedelt. Die leeren Häuser und Wohnungen füllte man mit Linientreuen auf. Misstrauen und Vorbehalte belasteten über Jahrzehnte die dörfliche Gemeinschaft. Das hat sich zum Glück in den letzten Jahren wieder geändert“, sagt Horst Gärtner. Heute arbeite man im Förderverein vertrauensvoll und grenzüberschreitend zusammen, gestalte die Gegenwart, möchte Geschichte im Bewusstsein verankern und als Mahnung begreifbar machen.
Etwa 3000 Besucher pro Jahr finden den Weg ins Zweiländermuseum, darunter viele Kurgäste aus den nahen Bädern Rodach und Colberg oder Wanderer, die dem „Grünen Band“ entlang der ehemaligen Grenze folgen. Schulklassen könnten es mehr sein, bedauert Sybille Knopf. Deshalb wurden kürzlich an die 100 Einladungsbriefe an Schulen und Gymnasien der Region verschickt. Auch sonst versucht man, durch Kreativangebote oder Museumsnächte Interesse zu wecken.
Zur Gedenkveranstaltung am 5. Juni, 14 Uhr, wird es in der Marienkirche Streufdorf und am Gedenkstein eine Andacht geben. "Misstrauen und Vorbehalte belasteten über Jahrzehnte die dörfliche Gemeinschaft"
Autor:Online-Redaktion |
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