Telefonseelsorge
Anrufer haben Angst
Rund ein Fünftel der Anfragen bei der Telefonseelsorge drehe sich unmittelbar um den Krieg in der Ukraine, sagte Markus Mütze, Mitglied des Leitungsteams der Evangelischen Telefonseelsorge in Frankfurt am Main. Menschen haben Angst davor, dass der Krieg so nahe stattfinde und vielleicht auf Deutschland übergreife. Bei vielen lege sich «ein diffuser Angstschleier» über das Leben. Trauer, Sorgen und Zukunftsangst nähmen zu.
In dieser Situation wenden sich nach den Worten des Ausbilders und Supervisors zum einen solche Menschen an die Telefonseelsorge, die eine persönliche Beziehung zu Kriegserlebnissen haben. Dies könnten Kindheitserinnerungen sein oder Erzählungen von Familienangehörigen. Bei anderen Anfragenden sei es die Flut an Nachrichten und Mitteilungen, die bedrohliche Fantasien und beängstigende Spekulationen auslöse. So etwa bei einer Mutter, die von ihrem Kind gesagt bekommen habe: «Mama, wir sind nächste Woche tot, wenn Putin den roten Knopf drückt!»
Die persönlichen Sorgen hinter der allgemeinen Kriegsangst seien unterschiedlich, erläuterte Mütze. Das könne neben der Angst vor einem Atomschlag die Angst um Verwandte oder Bekannte in der Ukraine sein, die Sorge vor den hohen Sprit- und Heizkostenpreisen oder die Steigerung des Einsamkeitsgefühls. Die Telefonseelsorge gebe keine Ratschläge, sondern helfe den Anfragenden, ihre Ängste zu sortieren, erklärte der Berater. Hilfreich sei, wenn die Ratsuchenden sich darauf besinnen, dass sie in der Gegenwart an ihrem Ort in Sicherheit sind. Gut tue es, den Nachrichtenkonsum auf eine bestimmte Zeit zu beschränken und gezielt auf seriöse Quellen zu achten.
„Ich empfinde dieselben Gefühle von Angst und Machtlosigkeit. Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand“
Ein Schritt aus Ohnmachtsgefühlen heraus sei, zu überlegen, was man selbst tun kann: etwa spenden, auf eine Friedensdemonstration gehen oder sich an einer Flüchtlingshilfe beteiligen. Ziel sei, die Menschen zu befähigen, neue Perspektiven zu erkennen.
Mehr Anfragen seit Beginn des Krieges könne die Telefonseelsorge nicht bekommen, weil ihre Ressourcen schon völlig ausgeschöpft seien, ergänzte Mütze. Bundesweit kämen auf jedes Gespräch vier bis fünf Anrufversuche. Menschen über 35 Jahre griffen vornehmlich zum Telefon, diejenigen unter 35 Jahre schrieben eher eine Mail oder wendeten sich per Chat an die Berater.
Auch das russischsprachige Seelsorgetelefon „Telefon Doweria“ (deutsch: Vertrauenstelefon) in Berlin verzeichnet seit Kriegsbeginn in der Ukraine deutlich mehr Anrufe. Das Projekt arbeitet in Trägerschaft des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Wie die Leiterin des Seelsorgeangebots, Tatjana Michalak, mitteilte, hat sich die Anzahl der Anrufe seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukra-ine verdoppelt. Die tägliche Zahl der Anrufe sei von 15 bis 20 auf 30 bis 35 angestiegen. Bei den Telefonaten gehe es um ein breites Spektrum an Themen. Kriegsflüchtlinge suchten nach konkreten Hilfen in der Bundeshauptstadt. Russischsprachige Bürger in Berlin berichteten indes von Aggressionen von Einheimischen, Beschimpfungen, Kündigungen, Sachbeschädigungen, Zerrissenheit der Familien und Sorgen um die Verwandtschaft in der Ukraine und in Russland. Manche bekämen keine Zimmer in Hotels oder würden in Gaststätten nicht bedient, wenn sie als Russen identifiziert werden. Außerdem berichteten Anrufer, dass Kinder bei Geburtstagen ausgeladen würden.
Michalak selbst ist gebürtige Ukrainerin. Auch für sie ist die aktuelle Situation herausfordernd: „Ich empfinde dieselben Gefühle von Angst, Sorgen und Machtlosigkeit. Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand, deswegen muss man jetzt stark sein“, erklärt die Leiterin. Möglicherweise werde sie, wenn der Krieg vorbei ist, auch eine Supervision in Anspruch nehmen, um ihre Gefühle zu verarbeiten. Beim „Telefon Doweria“, das Mitglied im Dachverband „TelefonSeelsorge Deutschland“ ist, sind etwa 100 Mitarbeiter tätig, größtenteils im Ehrenamt.
(epd/idea)
Autor:Online-Redaktion |
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