Vollbetreute Menschen dürfen wählen
Erstwähler mit 73 Jahren
"Ich freue mich, dass wir jetzt den Bundestag wählen dürfen.»
Von Thomas Tjiang
Günter Usbeck gehört zu den vielen Erstwählern, die nun ihre Kreuzchen bei einer Bundestagswahl machen dürfen. Der Mittelfranke aus Hilpoltstein gehört aber nicht zu den neuen Volljährigen, die frisch an die Urne dürfen. Usbeck ist mit seinem 73 Jahren schon lange Rentner, darf aber erst jetzt als Mensch mit Behinderung in sogenannter rechtlicher Vollbetreuung die erste Bundesregierung mitbestimmen.
Bis 2019 waren voll betreute Behinderte von diesem demokratischen Recht ausgeschlossen. Dann kippte das Bundesverfassungsgericht das Bundeswahlgesetz. Daraufhin musste der Bundestag mit einer Reform ein inklusives Wahlrecht schaffen.
Usbeck lebt seit Jahrzehnten im Auhof, einer Einrichtung der Rummelsberger Diakonie. Sie bildet in Hilpoltstein ein Art Stadt in der Stadt. Neben Schule und Werkstatt sowie Gärtnerei wohnen dort rund 400 Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung. Die Einrichtung gibt Menschen ab dem Kinderalter bis in die Rentnerzeit eine Heimat in Wohngemeinschaften oder eigenen Wohnungen.
Das Wahl-Procedere ist Usbeck nicht ganz unbekannt. Bereits im vergangenen Jahr machte er erstmals sein Kreuzchen als Wähler bei einer Kommunalwahl. Früher beteiligte er sich als Beschäftigter in einer Werkstatt an der Wahl zum Werkstatt-Rat. Als Bewohner im Auhof gibt er regelmäßig alle vier Jahre seine Stimme für die Bewohnervertretung ab. Die Vertreter kümmerten sich dann um das, «was sich mal ändern soll», erklärt er.
Bei der bevorstehenden Bundestagswahl erlaubt ein neuer Passus im Bundeswahlgesetz eine Unterstützung in der Wahlkabine. Kann ein Mensch beispielsweise nicht lesen oder ist anderweitig an der Stimmabgabe behindert, darf er Unterstützung von anderen Menschen bekommen.
Der Auhof motiviere seine Bewohnerinnen und Bewohner, ihr Wahlrecht auszuüben, sagt Dietmar Bühling vom Pädagogischen Fachdienst der Rummelsberger Diakonie. Dabei helfen beispielsweise auch Unterlagen in leichter Sprache, die den Wahlablauf veranschaulichen. Manche Bewohner würden sich im «Selbststudium» damit beschäftigen, andere ließen es sich lieber von Auhof-Pädagogen erklären.
Was die Beteiligung an der Bundestagswahl angeht, rechnet Bühling ähnlich wie bei einer Wahl des Werkstatt-Rates mit rund zwei Dritteln. Sie wäre dann fast so hoch wie die Gesamt-Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017. «Wir sind im Auhof ein Abbild der Gesellschaft», sagt der Diakon. Ein Teil werde sich sicherlich nicht für die Wahl interessieren, bei einem anderen Teil sei die Spannung groß – «weil sie erstmals wegen der Gesetzesänderung oder der Volljährigkeit mitwählen dürfen».
In jedem Fall sieht Bühling in der Reform «einen richtigen und guten Schritt». Immerhin gehen offizielle Zahlen davon aus, dass rund 85 000 betreute Menschen nun erstmals auf Bundesebene mitwählen dürfen. Damit wird ihnen ihr demokratisches Kern-Grundrecht nicht mehr verwehrt. «Sie können nun ihre Vorstellungen und Wünsche bei der Wahl einbringen.»
Ob die 38-jährige Tanja Meindl, auch eine Bewohnerin des Auhofs in rechtlicher Vollbetreuung, sich an der Wahl beteiligt, lässt sie noch offen: «Ich bin unentschlossen», sagt sie. «Das mit dem Wählen ist gut, aber auch ein bisschen aufregend.» Sicherer fühlt sie sich in der Werkstatt, wo sie Sägeböcke herstellt oder Kinder-Spielzeug aus Holz zusammenbaut. Auch bei der Kommunalwahl im letzten Jahr hat sie noch nicht ihre Stimme abgegeben. Bei dem großen Wahlzettel habe sie am Ende «den Überblick verloren», räumt sie ein.
(epd)
Autor:Online-Redaktion |
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