Winterruhe
Leitfaden zum "Runterfahren"
Zwischen Weihnachten und Ostern: Überall kahle Äste, Igel und Co. halten Winterschlaf, die Vegetation ruht – nur die Menschen scheinen nicht zur Ruhe kommen zu können.
Von Angelika Prauß
Im Winter legt die Natur eine Pause ein, um sich zu regenerieren und Kräfte fürs Frühjahr zu sammeln. Kahle Bäume scheinen wie erstarrt, kaum etwas blüht, und auch viele Tiere ziehen sich zurück. Denn die Tage sind kurz, die Nächte lang. Doch statt es der Natur gleichzutun, sich mehr Ruhe zu gönnen und einen Gang runterzuschalten, verlagern Menschen im Winter ihr Aktivitätsniveau von draußen nach drinnen – und machen in ihrem Alltag weiter wie gewohnt.
Anders etwa als Eichhörnchen oder Waschbären – typische Vertreter im Tierreich, die sich eine Winterruhe gönnen. Dabei seien sie häufig wach und wechselten die Schlafposition, weiß Stefan Bosch vom Naturschutzbund (Nabu). Kleine Tiere mit hohem Stoffwechsel – Meisen etwa – schieben bei Kälte und Nahrungsknappheit kurzfristige Schlafphasen ein. Richtige Winterschläfer wie Igel dagegen hätten tage- bis wochenlange Schlafperioden. Den Impuls zum Schlafen geben laut Bosch nicht herbstliche Temperaturen oder Nahrungsmangel. Vielmehr spielten der Jahresrhythmus der "inneren Uhr", hormonelle Umstellungen und die Tageslänge eine Rolle. Letztere beeinflusse die Bildung von Fettdepots und diese wiederum die Schlafbereitschaft.
Die Natur folge einem Rhythmus von Aktivität und Ruhe, erklärt der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler. Der Mensch aber habe das Gespür dafür durch die Uhr und die moderne Zeitmessung mit ihrem festen Takt verloren. Einst sei der Winter – nach getaner Arbeit auf dem Feld – die Zeit für Rückzug und Erholung gewesen. Heute werde der Umgang mit Zeit "durch die mechanische Uhr bestimmt, nicht durch die Natur und Jahreszeiten", sagt Geißler. Dabei sei der Mensch im Winter aufgrund des geringen Tageslichts weniger leistungsfähig, "unsere Körper sind mehr auf Ruhe geschaltet".
Dass Menschen die Nacht zum Tag machen können, liegt daher auch an der Beleuchtung. Ausgeklügelte Lichtkonzepte nutzen gezielt das Farbspektrum des Lichts, um den natürlichen Rhythmus zu unterstützen, aber auch auszutricksen. Denn die Netzhaut im Auge ist empfänglich für die Lichtfarbe, die im Gehirn unbewusste, biochemische Vorgänge anregt.
So können nach dem Vorbild des Tageslichts mit wechselnden Helligkeiten und Lichtfarben Impulse gesetzt werden, so dass Menschen wach werden oder auch entspannen, erklärt Jürgen Waldorf, Geschäftsführer der Brancheninitiative "Licht.de". In Fachkreisen spricht man von Human Centric Lighting (HCL): Bis zum frühen Nachmittag soll Licht mit hohen Blauanteilen die Lebensgeister wecken und die Konzentration fördern. Zugleich werde damit die Hormonbildung von Cortisol und Serotonin angekurbelt. Um den Körper auf Nachtruhe einzustellen, sollte zwei Stunden vor dem Schlafen warmweißes Licht mit geringen Blauanteilen dominieren, das die Produktion des müde machenden Hormons Melatonin anregt.
Wenn es also möglich ist, im Winter die Tage bis in den späten Abend zu verlängern – ist es auch sinnvoll? Nicht ohne Grund kennt die Kirche im Advent und vor Ostern zwei längere Fastenzeiten, die der inneren Einkehr und dem Innehalten dienen sollen.
Auch die österreichische Autorin und Beraterin Tanja Draxler plädiert dafür, den natürlichen Rhythmen von Aktivität und Ruhe zu folgen. Besonders Frauen seien, bedingt durch ihren Monatszyklus, sensibel für solche Phasen. Aber oft lebten auch sie gegen ihre Natur. Frauen sind nach Draxlers Beobachtung stark mit dem "Yin-Denken" – Gefühle, Intuition, Kreativität und einem kreisförmigen Zeitdenken – verbunden. Männer dagegen sprächen mehr auf das Yang-Denken an: Ziele, lineares Zeitdenken, rationales Denken, Verstandesebene. Weil sie im Alltag aber die in ihnen angelegten Yin-Elemente nicht ausreichend auslebten, fühlten sich immer mehr Frauen erschöpft und ausgelaugt. Der Mensch, Männer wie Frauen, habe sich immer mehr vom natürlichen, zyklischen Leben entfernt und den Blick für diese Abläufe verloren, sagt Draxler.
Der Garten sei ein guter Lehrmeister – dort gebe es kein Versäumen oder Verpassen. "Die Zeit wiederholt sich, und es gibt immer wieder eine neue Gelegenheit." Der Blick auf die Natur schenke Gelassenheit – im Wissen, dass der Winter mit seinem vermeintlichen Stillstand keine vertane Zeit sei, sondern der Nährboden für eine neue Schöpfung, neues Leben und kraftvolle Energie. "Im Frühjahr gibt es eine neue Chance, dass alles wächst und gedeiht."
(kna)
Tipp
Draxler, Tanja: Lebe wild, verrückt und wunderbar, Trias, 254 S., ISBN 978-3-432-11231-2, 18,50 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchenzeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61
Autor:Online-Redaktion |
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