Spazierengehen als neues Hobby
Wenn’s erst einmal läuft
Schritthalten: Zu Fuß ist der Mensch am dichtesten dran an der Welt. Auf welche unterschiedlichen Weisen wir gehen, und warum es so gut tut, erlebt nur, wer es ausprobiert.
Von Martina Schwager
Spazierengehen ist das neue Hobby der Lockdown-geplagten Bundesbürger. Die drei Elftklässlerinnen Theresa, Mailin und Frieda haben jüngst sogar an einem Dienstagvormittag in Osnabrück eine kleine Wanderung unternommen – von der Schule verordnet. Um die Motivation beim Homeschooling hoch zu halten, hatte der Direktor einen «Time-Out-Tuesday» verkündet. Die Schüler sollten tun, wozu sie Lust hätten. Die Freundinnen gingen spazieren. «Endlich mal wieder sich treffen und unterhalten und bewegen, statt vor dem Bildschirm zu hocken.» Lachend fügt Mailin hinzu: «Spazierer sind keine Verlierer.»
Sie bringt auf den Punkt, was der irische Neurowissenschaftler Shane O'Mara in seinem Buch «Das Glück des Gehens» so ausdrückt: Gehen als die ursprünglichste Form der Fortbewegung steigere «die Leistungsfähigkeit unseres denkenden, fühlenden und kreativen Selbst, und sie verbessert unsere Gesundheit.» Tatsächlich sind wir Menschen «zu Fuß am dichtesten dran an der Welt», wie es der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar aus Leipzig ausdrückt. Das Gehirn könne beim Wahrnehmen von Sinneseindrücken mit den Füßen Schritt halten. Schon beim Fahrradfahren gehe viel verloren.
Weisshaar bietet in verschiedenen Regionen und Städten sogenannte Talk Walks an. Bei diesen Spaziergängen versorgt er die Teilnehmer – entweder persönlich oder über einen Audio-Guide – mit Informationen über die Umgebung, etwa zum Verkehrsgeschehen, zur Architektur oder Natur. Sein Credo lautet: «Nur Dinge, von denen ich weiß, kann ich auch wahrnehmen.» Während seiner «Landpartien» will er Städter und Dörfler für die Lebensweise der jeweils anderen sensibilisieren.
Ähnlich wie Weisshaar lässt sich auch die Design-Wissenschaftlerin Bettina Bruder vom Soziologen und selbst ernannten Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt (1925-2003) inspirieren. Der Schweizer propagierte in den 1980er-Jahren, Stadtplaner sollten sich unter die Fußgänger begeben, bevor sie Straßen und Gebäude planten. Er bediente sich dabei ungewöhnlicher Experimente. So verlegte er etwa ein Hochschulseminar auf einen stark frequentierten Parkplatz. Bettina Bruder forderte als Professorin am Institut für Kunst und Kunstpädagogik an der Uni Osnabrück ihre Studenten im vergangenen Sommer auf, mit ihren Aufgaben im Kopf spazieren zu gehen: So konzentrierten sich einige während des Gehens auf bestimmte Schrittmuster, andere hörten einen Podcast, betrachteten Wolkenformationen oder begaben sich zum mathematisch errechneten Mittelpunkt ihrer Stadt. «Ich wollte sie in andere Wahrnehmungen hineinstoßen, ihre Sinne neu konfigurieren», sagt Bruder.
Die heilende Wirkung des Gehens hat auch Renate Halbrügge erfahren. Ihr habe das Pilgern geholfen, in einer Krisensituation wieder neue Kraft zu schöpfen, sagt die 64-Jährige: «Einfach nur raus und laufen, laufen, laufen.» Drei Mal ist sie vor rund zehn Jahren insgesamt rund 800 Kilometer auf dem Jakobsweg in Spanien gepilgert: «Immer, wenn ich zurückkam, war ich ein anderer Mensch. Und ich war eine ganze Zeit lang sehr gelassen.» Halbrügge hat seitdem auch das Wandern für sich entdeckt. Und sie beginnt drei Mal pro Woche den Tag mit einer Walking-Runde. «Da ist man schon morgens gut drauf – auch wenn man mal schlecht geschlafen hat.»
(epd)
O'Mara, Shane: Das Glück des Gehens, Rowohlt, ISBN 978-3-498-03579-2; 22 Euro
Autor:Online-Redaktion |
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